Übergang zu weiterführenden Schulen
Artikel im Heft 4/2003 der Zeitschrift Grundschule (S. 57–28)
Kurz vor dem Übergang in die fünfte Klasse wird vielen Grundschulkindern mulmig: Was mag auf sie zukommen? Beginnt hier der häufig beschworene „Ernst des Lebens“? Diese vierte Klasse schaute sich genau an, was sie erwarten würde.
Nicht erst seit der PISA-Studie sind Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen an der Qualität unseres Bildungssystems interessiert. Merkwürdig in der öffentlichen Diskussion ist nur, dass die schlechten Leistungswerte 15-jähriger Schülerinnen und Schüler die Frage nach dem Billdungsauftrag und der Qualität von Kindergarten und Grundschule ins Zentrum des Interesses rücken. Eigentlich würde man doch zunächst die Leistungsfähigkeit der weiterführenden Schulen zu prüfen haben. Wie können dennoch in den Augen der Öffentlichkeit fünf Jahre Unterricht in weiterführenden Schulen weniger ausschlaggebend für die PISA-Ergebnisse sein als die vier Grundschuljahre?
Hier spiegelt sich die bittere Erfahrung vieler Kinder und Eltern beim Übergang zur Sekundarstufe wider: Mit Eintritt in die Klasse 5 wird – völlig überraschend für ein Grundschulkind – behauptet, der grundlegende Lernprozess in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen sei abgeschlossen. Im Lehrerdeutsch hört sich das so an: „Wir sind hier nicht mehr im ersten Schuljahr!“ oder „Das habt ihr doch schon längst durchgenommen!“ Wer den in Klasse 5 gestellten Anforderungen jetzt noch nicht genügt, „gehört hier nicht hin!”
Zum Zweck der Kontinuität pädagogischer Anforderungen wird inzwischen von Grundschulexperten ein „Kerncurriculum“ für Grundschulen vorgeschlagen, das von allen Kindern am Ende des vierten Schuljahrs den gleichen Kern-Wissensstand verlangt. Solche Maßnahmen haben allerdings unerwünschte Nebenwirkungen, nämlich eine erhöhte Zahl von „Schulversagern“ und Klassenwiederholern (vgl. Schwarz 2001).
Schule ist inzwischen der größte Belastungsfaktor im Leben von Kindern und Jugendlichen. Dafür ist die Grundschule mitverantwortlich: In Nordrhein-Westfalen wiederholten im Schuljahr 2000/2001 etwa 27.000 Grundschulkinder die Klasse oder wurden zurückgestellt (vgl. Boese 2001). Ist diese Zahl ein Zeichen für frühe Anpassungstendenzen an den wachsenden gesellschaftlichen Selektionsdruck? Viele Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer praktizieren offenbar im hohen Maße Leistungsauslese und widersprechen damit dem Auftrag der Grundschule.
Die Unterrichtsqualität der Grundschule wird aber in der Öffentlichkeit nicht wegen ihrer zu geringen Verwirklichung von Freiarbeit und Schülerorientierung bemängelt, sondern paradoxerweise geschieht das Gegenteil: Man beschwört alte Mythen, nämlich: dass frühe Auslese über Zensuren und die „Aufteilung von Schülern in drei Schulstände“ zu Erfolgen führe (vgl. Klemm 2001).
Der Übergang in die unbekannte Welt der Sekundarstufe macht viele Grundschulkinder unsicher. Wir wollen von einem Versuch berichten, den eine Grundschulklasse unternommen hat, um die Ängste vor dem Übergang zur weiterführenden Schule zu reduzieren.
Ein Thema, das nicht „nebenbei“ behandelt werden kann
Die münstersche Grundschule Berg Fidel liegt im sozialen Brennpunkt und praktiziert offene Unterrichtskonzepte (vgl. Pollert 2002; Stähling 2002). Um die Kinder stark zu machen für den Übergang, haben Viertklässlerinnen und –klässler in Kleingruppen den Unterricht in mehreren Sekundarschulen besucht. Solche Unterrichtsbesuche gelten leider noch nicht als selbstverständlich. Auch Eltern von Grundschulkindern wird selten erlaubt, im Unterricht der weiterführenden Schulen zu hospitieren. Zurückweisungen muss man hinnehmen. Aber auch sehr herzliche Einladungen konnten wir erleben. In sechs Schulen erprobten wir in Kleingruppen das noch selten praktizierte Verfahren der selbstständigen Unterrichtsbeobachtung durch Schülerinnen und Schüler* (vgl. Hilger 1978; Greiling/Ramseger 1984; Ahrens/Süselbeck 1989).
Im ersten Schritt erlernten die Schülerinnen und Schüler Beobachtungstechniken in der eigenen vierten Klasse, indem sie unter Anleitung den Unterricht mitprotokollierten, um anschließend im zweiten Schritt in einer fremden fünften Klasse selbstständig entsbrechende Beobachtungsaufgaben zu erfüllen. Mit dem Beobachtungsbogen (siehe Abb. 1) wurde entlang einer Zeitachse die Unterrichtsform (Einzelarbeit usw.) erfasst und zugleich das Regelverhalten eines ausgewählten Schülers durch mehrere beobachtende Kinder der vierten Klasse eingeschätzt. Meist bot sich die Gelegenheit, einem Lehrer der besuchten Schule vorbereitete Fragen zu stellen. Reflexionen über Abläufe und Regelsysteme schlossen sich an.
Spätestens nach den Unterrichtsbesuchen und bei den Berichten der „heimkehrenden Forschergruppen“ vor der gesamten Klasse spürten wir, dass der Übergang Thema Nummer eins war. Wir konnten die Problematik nicht nebenbei behandeln. Unsere Viertklässler erwiesen sich nicht als „zu jung”, um komplexe Beobachtungsaufgaben zu bewältigen.
Im Gegenteil: Der konkrete „Forschungsauftrag“ erleichterte den Grundschülern die Urteilsbildung. Sie wurden nicht von den vielfältigen Eindrücken einer fremden Umgebung erschlagen, weil sie eine überschaubare und vorstrukturierte Aufgabe zu erfüllen hatten.
Folgende schriftliche Schüleräußerungen deuten auf Lernprozesse, die durch die Schul- und Unterrichtsbesuche angestoßen wurden:
„Bevor wir zum zweiten Mal eine weiterführende Schule besucht hatten, war meine Angst schon weg, weil ich schon einmal in einer weiterführenden Schule gewesen bin.“
(Junge aus Sri Lanka)
„Ich hatte zuvor etwas Bauchkribbeln“
(Deutsches Mädchen)
„Ich habe mich geschämt, in die Klasse zu gehen, aber ich musste ja rein. Ich konnte alles verstehen, was der Lehrer erklärt hat.”
(Türkische Mädchen)
„Die Schule ist groß, und die Kinder sind alle nett“
(Türkischer Junge)
„Einige Schüler reden viel mit ihren Nachbarn oder hören nicht zu.“
(Polnisches Mädchen)
„Die anderen Kinder haben sich cool verhalten, stark und anständig.”
(Vietnamesischer Junge)
„Der Junge, den ich beobachtet habe, verhielt sich still, hat abgeguckt, fragte, was er machen musste, hörte manchmal nicht zu, machte ein bisschen Quatsch, und ihm war langweilig. Die anderen verhielten sich nett. Ich war sehr aufgeregt, weil ich dachte, dass da böse Leute wären, aber da waren nette Lehrer und Lehrerinnen, außer einige Jugendliche.”
(Vietnamesiches Mädchen)
Die Viertklässler haben erfahren können, dass Ängste oder Fragen zum Übergang ernst genommen werden.
Nach dem Schulwechsel: Es geht weiter
Bereits im September trafen sich die neuen Fünftklässler in ihrem ehemaligen Grundschulklassenraum an einem Nachmittag wieder, um mit ihren Grundschullehrern auszutauschen, was sie in ihren neuen Schulen erlebt haben. Ängste waren zwar bei Einzelnen geblieben, aber der Mut, es zu schaffen, überwog. Auf einem Elternabend der Ehemaligen wurde bestätigt, dass die Kinder in der Grundschule genügend Kraft getankt hatten, um den Schulwechsel zu meistern.
Es wurde aber auch von anderem berichtet, das zu Sorgen Anlass gibt. Mütter oder Väter von Fünftklässlern berichten, dass Regulationssysteme in weiterführenden Schulen noch genauso funktionieren wie früher, als man selber noch die Schulbank drückte. „Lehrerzentriertes Unterrichtsgespräch im geschlossenen Klassenverband“ (vgl. Greiling/Ramseger 1984) scheint dabei noch eine nachsichtige Beschreibung dessen zu sein, was der Alltag deutscher Sekundarschulen auch heute noch häufig bietet (vgl. Singer 1998).
Die empirische Schulforschung hat solche Elternberichte bisher leider nicht widerlegen können. Bei einer repräsentativen Befragung von 2000 Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe 1 sagten nur 8 %, dass Lehrkräfte sie im Unterricht mitbestimmen ließen. Nur 10 % der Schüler haben zu ihren Lehrern großes Vertrauen, und nur 19 % meinen, dass sich die Lehrkräfte darum kümmern, wie es den Schülern geht (vgl. Kanders/Rolff/Rösner 1996).
Die schlechten PISA-Ergebnisse machen darauf aufmerksam, dass eine Reform deutscher Schulen, die sich an der Reformpädagogik hätte orientieren können, nicht konsequent betrieben worden ist (vgl. Stähling 2002c). Wir sind heute weiter entfernt vom reformpädagogischen Schulleben als die meisten OECD-Staaten. Die Auseinanderset zungen mit großen Pädagogen wie John Dewey, Célestin Freinet, Maria Montessori oder Peter Petersen über verschiedene Konzeptionen in den zwanziger Jahren (vgl. Stähling 2002a) könnten unseren heutigen Schulen helfen, den Anschluss an die internationale pädagogische Praxis wieder zu finden. So gibt es aus guten Gründen kaum ein OECD-Land, in dem Kinder bereits nach vier Jahren Grundschule in eine andere Schulform wechseln. In Deutschland wurde die Fachdiskussion über die sechsjährigen Grundschule (Beispiel Berlin) (vgl. Heyer/Valtin 1991; Faust-Siehl u. a. 1996, S. 149 ff.; Schmitt 1999, S. 85 ff.; Heyer 2001) jahrelang ignoriert.
Einzelne gelungene Projekte zum Übergang (vgl. Greiling/Ramseger 1984; Ahrens/Süselbeck 1989) sind leider noch kein Zeichen dafür, dass die Schnittstelle zwischen Primar und Sekundarbereich pädagogisch verantwortbar gestaltet ist.
In der realen Schullandschaft heute bleibt der einzelnen Grundschule nichts anderes übrig, als ihre Schülerinnen und Schüler auf den holperigen Übergang vorzubereiten.
Das Ziel im Unterricht einer vierten Klasse müssen wir vorläufig nüchtern so formulieren: Kinder stark machen für den „rauen Alltag“ in einer weiterführenden Schule, für ein Schulsystem, in dem viele Betroffene z. B. die 45-Minuten-Häppchen des Fachunterrichts nicht einmal mehr bewusst wahrnehmen, geschweige denn in Frage stellen, und für ein Schulsystem, in dem Schülerprobleme nicht ausreichend besprochen werden.
*Ich danke der Grundschul- und Sekundarstufenlehrerin Ilka Pelke für ihre Mitarbeit.
Literatur
Ahrens, Brigitte/Süselbeck, Gisela: Von Klasse 4 nach Klasse 5. Schüler einer Grundschule nehmen am Unterricht einer Hauptschulklasse teil. In: Portmann, Renate/Wiederhold, Karl/Mitzlaff, Hartmut (Hrsg.): Übergänge nach der Grundschule. Frankfurt/Main 1989, S. 126–128
Boese, Renate: Starker Anstieg bei Wiederholern. In: Neue Deutsche Schule, Heft 6/200 1, S. 8
Faust-Siehl, Gabriele/Garlichs, Ariane/Ramseger, Jörg/Schwarz, Hermann/Warm, Ute: Die Zukunft beginnt in der Grundschule. Empfehlungen zur Neugestaltung der Primarstufe. Reinbek 1996
Greiling, Gertraut/Ramseger, Jörg: „Wir üben fünftes Schuljahr“ – Ein Projekt zwischen zwei Schulstufen. In: Grundschule, Heft 1/ 1984, S. 37–40
Hilger, Heide: Schüler beobachten Unterricht. Ein Erfahrungsbericht. In: Grundschule, Heft 5/1978, S. 201–202
Heyer, Peter: Der Streit um die Dauer der Grundschule. In: Fölling-Albers, Maria/Richter, Sigrun/Brügelmann, Hans/Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Jahrbuch Grundschule 111. Frankfurt/Main 200 1, S. 120–125
Heyer, Peter/Valtin, Renate: Die sechsjährige Grundschule in Berlin. Frankturt/Main 1991
Holtappels, Heinz Günter: Schulprobleme und abweichendes Verhalten aus der Schülerperspektive. Bochum 1987
Kanders, Michael/Rolff, Hans-Günter/Rösner, Ernst: Schülerschelte für die Lehrer. In: Kuenheim, Haug von (Hrsg.): Weiche Schule brauchen wir? Hamburg 1996, S. 34–37
Klemm, Klaus: Konservative Mythen. In: Erziehung und Wissenschaft, Heft 11/2001, S. 2
Krichbaum, Gabriele: Der Übergang nach Klasse 4. In: Grundschule, Heft 4/ 199 1, S. 24–25
Pollert, Manfred: Lernen und leben im 1. Schuljahr. Berlin 2002
Schmitt, Rudolf (Hrsg.): BundesGrundschulKongress 1999 – An der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Frankfurt/Main 1999
Bedenken gegen Festlegen eines „Kern-Curriculums“ für die Grundschule. In: Grundschulverband Aktuell, Heft 74/200 1, S. 10–12
Schwarz, Hermann:Singer, Kurt: Die Würde des Schülers ist antastbar. Reinbek 1998
Stähling, Reinhard: Unterrichtsqualität und Disziplin. In: Grundschule, Heft 2/2000, S. 20–22
Stähling, Reinhard: „Unter westfälischen Eichen. Kelkheim 2002a
Stähling, Reinhard: „Ein wie feines Modell im Kleinen”. Über Merkwürdigkeiten beim Schulwechsel nach Klasse 4. In: Die Deutsche Schule, Heft 93/2002b, S. 61–67
Stähling, Reinhard: „Für das Leben lernen“ – Reformpädagogik als Antwort auf PISA. In: Die Deutsche Schule, Heft 3/2002c, S. 295–299
Stähling, Reinhard: „Wir sind ständig auf Klassenfahrt“ – Ein übertragbares Modell ganztägiger Erziehung in der Grundschule. In: Neue Deutsche Schule, Heft 9/2002d, S. 22–23