Die Ausnahme und die Regel

von Bertolt Brecht

„Der Mensch ist erst wirklicht tot,
wenn niemand mehr an ihn denkt“

Bertolt Brecht

Die Auftritte finden auch im Gedenken an den Münsteraner Bildhauer Bodo Treichel statt. Einige seiner Skulpturen bilden das Bühnenbild von „Die Ausnahme und die Regel“
Sein A(r)telier unterhielt Bodo Treichler in Kinderhaus. Bodo Treichlers Engagement galt dem Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung.
Mit Bertolt Brecht verband ihn sehr viel.
Sein Kontakt zu Manfred Wekwerth, Bertolt Brechts Schüler und Nachfolger am Berliner Ensemble, motivierte uns gemeinsam zu dem Plan, im Jahr 2010 BRECHT-Tage mit mehreren Produktionen des Theater in der Kreide und vielen anderen Künstlern durchzuführen.
Es kam nicht mehr dazu, weil Wekwerth starb.
Nun mussten wir auch von Bodo Abschied nehmen.
Er ist im März 2015 gestorben.


Ein Mann wird getreten, geschunden, erniedrigt und am Ende getötet. Er hinterlässt Frau und Kind. Damit nicht genug; der Täter wird vor Gericht frei gesprochen. Keine Schuld, es war Notwehr. Er musste ja damit rechnen, dass der Gequälte ihn hasste und bei nächster Gelegenheit umbringen würde. Reinhard Stähling inszeniert das Brecht-Stück aus den 30er-Jahren als einen stummen Schrei der Frau des Getöteten. Die ungezügelten Schauspieler des turbulenten „Theater in der Kreide“ zerpflücken mit ehrenwertester Etikette „Die Ausnahme und die Regel“. Und geben dem Toten die Würde zurück. Ein erfreulicher Theaterabend ganz im Zeichen erbarmungsloser Ignoranz und ausgelassener Rücksichtslosigkeit. Dem Ganzen wird gut zugeredet durch das Jazz-Saxophon von Thomas König und die rhythmischen Klänge von Thomas Schnellen. Aufs Auge gibt’s was vom Bildhauer Bodo Treichler und seinem A(r)telier, Hunderte von Zuschauern hat diese Schauspieltruppe begeistert in einem Dutzend brillanter Theaterinszenierungen. Sie lügen nicht.


Schauspieler
Der Richter: Petra Schulte
Der Kaufmann: Norbert Kauschitz
Der Führer: Volker Stephan
Der Kuli: Thomas Hanke
Die Frau des Kulis: Katja Pietzner
Polizist: Cornelius Hüdepohl
Beisitzer: Thomas Hanke
Der Wirt (mit Getränkeausschank) Cornelius Hüdepohl
Musik
Gitarre: Thomas Hanke als Kuli
Saxophon: Thomas König
Percussion, Bass, Elektronik: Thomas Schnellen
Skulptur und Bühne: Bodo Treichler, Kunst-Projekt-Werkstatt
„A(r)telier“ Münster
Leitung, Regie: Reinhard Stähling 



Impressionen von der Premierenaufführung am 18. Januar 2015 im Hypothalamus in Rheine 
Und hier geht es zur Foto-Galerie vom Hypothalamus


Theaterkritiken

Rezension WN 16.03.2015

Der Knecht zieht die Wanne

Das „Theater in der Kreide“ zeigt Bertolt Brechts „Die Ausnahme und die Regel“
Das „Theater in der Vor Gericht gibt es bei Brecht ein abstruses Urteil: (v. l.) Petra Schulte, Volker Stephan und Katja Pietzner zeigen es in ihrer Aufführung im Bennohaus. Foto: jas“ zeigt Bertolt Brechts „Die Ausnahme und die Regel“

Von Helmut Jasny
 Münster. Ein Knecht wird von seinem Herrn erschossen. In der Wüste, als er ihm Wasser reichen will. Der Herr hat die Flasche für eine Waffe gehalten und abgedrückt. Vom Gericht wird er freigesprochen. Notwehr. Begründung: Der Knecht war von Herrn geschunden worden, musste also Hassgefühle gegen ihn hegen.
Da sei es vom Herrn nur vernünftig gewesen, mit einem Angriff statt mit Freundlichkeit zu rechnen. Auge um Auge, so der Richter, sei die Regel. Humanität eher die Ausnahme. Und an die Regel müsse der Mensch sich halten.

Der hier skizzierte Gedankengang steht für eine Weltanschauung, die unter dem Mantel der Vernunft soziale Ungerechtigkeit gewissermaßen erst ermöglicht. Diese fatale Logik aufzudecken war Brechts Anliegen in seinem Lehrstück „Die Ausnahme und die Regel“, das am Samstag in einer Aufführung des „Theaters in der Kreide“ im Bennohaus zu sehen war. Es ist bereits das achte Mal, dass sich die Amateurschauspieler um Regisseur Reinhard Stähling mit Brecht auseinandersetzen.

Herausgekommen ist eine engagierte, mit viel Musik in Szene gesetzte Aufführung, die das Publikum über weite Strecken bei der Stange hält.  Ein Kaufmann ist mit seinem Knecht zu einem Ort unterwegs, wo er gute Geschäfte zu machen hofft. Bei Stähling muss der Herr den Knecht in einer Badewanne durch die Wüste ziehen, während dieser davon spricht, dass Leistungen immer gemeinschaftlich erbracht und Gefahren zusammen überwunden werden müssen. Dass der Herr aus den Strapazen am Ende Gewinn zieht, während auf dem Knecht nur neue Mühsal wartet, wird nur angedeutet, beleibt dem aufmerksamen Zuschauer als Erkenntnis aber nicht verborgen.

Brechts aufklärerischen Ansatz arbeitet das achtköpfige Ensemble in der Vorgeschichte gut heraus. Zudem gelingt es den Darstellern, das Spiel durch originelle Regieeinfälle unterhaltsam zu gestalten. In der abschließenden Gerichtsszene mit der abstrusen Urteilsbegründung hätte man allerdings mehr Stringenz gewünscht. Hier wirken sich die humoristischen Einlagen eher kontraproduktiv aus, weil die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu sehr vom Wesentlichen ablenken. Insgesamt aber eine sehenswerte Aufführung.


Rezension in der Münsterschen Volkszeitung vom 19.01.2015

Wenn die Menschlichkeit die Ausnahme wird

Der geschundene Kuli (Thomas Hanke) und sein Herr (Norbert Kauschutz) Foto: Winter

RHEINE. Als das Drama „Die Ausnahme und die Regel“ Anfang der 193Oer Jahre entstand, war 8ertolt Brecht auf dem Wege über Paris nach Dänemark ins Exil. Die Uraufführung fand 1938 in einem Kibbuz in Palälstinastatt und die deutsche Erstaufführung in Düsseldorf gar erst im Jahre 1956, in seinemTodesjahr. Es muss an diesem Lehrstück was dran sein, das das Theater in der Kreide (freie Theaterszene Münster)am letzten Sonntagabend im Hypothalamus eine experimentelle Inszenierung wagte, die der Premierenstart für eine Tournee mit Aufführungen im weiten Münsterland war.

Wenn dieses Drama auch zu Brechts erster Schaffensperiode zählt, war den fas 50 Zuschauern im Saal die epische Form erkennbar. Die Frau des Ermordeten (Katja Pietzner) erzählt eine Geschichte, die so banal für den Zuschauer wie eben bedeutend für den Autor ist: Ein Kuli zieht seinen Herrn durch die Wüste und als der Wasservorrat zur Neige geht, vermutet der Herr hinter der dargereichten Wasserflasche einen Stein und erschießt seinen Diener. Die Regie (Reinhard Stähling) hat es verstanden, diesen epischen Verlauf, einem erwartungsgemäßen Gerichtsurteil „bedeutsam“ in Szene zu setzen. Die Bühne war für die Zuschauer als Mittelpunktsbühne eingerichtet, deutlich der Max-Reinhardt-Idee entlehnt, die die Unmittelbarkeit vor und mit den Zuschauern erzwingt.

Gags lockerten das öde Wüstenlaufen auf: Die Armverschränkungen des Kaufmanns (Norbert Kauschitz) wurden orthopädisch von einer Zuschauerin gelöst, eine Badewanne als Wüsten-Vehikel zeigte den Überfluss-Reichtum der herrschenden Klasse und der Gerichtsdiener (Thomas Hanke) machte mit seiner Zettelwirtschaft das Gerichtswesen zur Farce.

Modern und doch im Sinne Brechts war das Zusammenspiel dreier Künste, die die Symbolwirkung erheblich verbreiterte und verstärkte. Neben dem Wort-Spiel des dramatischen Textes kam die Musik (Thomas König; Thomas Schnellen) besondere Bedeutung zu. In freien Improvisationen, aber auch mit inhaltsbezogenen Zitaten (Caravan, Bolero; Volkslied) wurden Szenen voneinander abgesetzt.

In den Szenen zeigte sich schon Brechts späterer Einsatz von Songs: Der Kuli (Thomas Hanke) begleitete sein Liedchen auf dem Weg durch die Wüstenei der Menschheit mit der Charango, einem kleinen Zupfinstrument aus wilden Gegenden der Erde. Die dritte Kunst war die bildende: In Bühnenskulpturen von Bodo Trailer war das „geknechtete“ Opfer dargestellt, daneben ein Januskopf, hinweisend auf ein Gerichtsverfahren, das Gerechtigkeit nach Anschauung der Personen misst.Im kern des Dramas kam wieder die Erzählerin ins Publikum, diesmal auch als Anklägerin. Obwohl der Führer (Volker Stephan) den Mord des Kaufmanns an den Kuli beweisen kann, bekommt die Witwe kein Gehör. Brecht stellt in einem skurrilen Gerichtsverfahren die Regel, dass ein Mörder bestraft wird als Ausnahme dar und kehrt die Verhältnisse im Namen der Upper-class-Gerechtigkeit um.

„Die Wahrheit kommt hier doch heraus“, verspricht die Richterin (Petra Schulte), und pervertiert die Auffassung der Menschlichkeit im Sinne des Klassenkampfes: Der „Herr“ fühlt sich gehasst und aufs Leben bedroht, deswegen erschießt er aus Notwehr den „Diener“ und wird freigesprochen, das entspreche jeglicher menschlicher Vernunft.

Der Vorhang zu und alle Fragen offen? Was die Regel ist, solle der Mensch als Missbrauch erkennen, ”wo ihr den Missbrauch erkannt habt, da schafft Abhilfe!“ Das Publikum zog schnell Parallelen zum Ereignis in Ferguson (USA), wo am 17. dieses Monat Zehntausende gegen Rassismus und Polizeigewalt protestierten.
Ingmar Winter