Der Kaukasische Kreidekreis

Theaterkritiken

WN 10. August 2000

Brecht für das ganze Volk

Theater in der Kreide geht auf Münsterland-Tournee

MÜNSTERLAND Die münsterische Theatergruppe „Theater in der Kreide“ bleibt Bertolt Brecht treu: Nach dem Erfolg mit „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ im vergangenen Jahr führt das Ensemble um Regisseur Dr. Reinhard Stähling jetzt das Drama „Der kaukasische Kreidekreis“ auf.
Das „Theater in der Kreide“ besteht seit zwei Jahren. Unser Name ist Programm, wir befinden uns eben ständig in der Kreide, soll heißen: Förderung sitzt nicht drin! Dafür können wir aber spielen, was wir wollen und wie wir wollen. Mit der Inszenierung soll der kundige Theaterbesucher ebenso angesprochen werden wie der literarische Laie.Das Ensemble besteht aus Theaterpädagogen, erfahrenen Amateurdarstellern und zwei Musikern. In Die Tournee hat bereits begonnen.

Die nächsten Auftritte sind: am heutigen Samstag (19. August) im Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt, am 1. und 2. September im Kreativ-Haus, Diepenbrockstraße 28 in Münster. Beginn ist um 20 Uhr. Karten können unter Telefon 02 51/7 77 97 71 vorbestellt werden.

Die Handpuppen gehören zum Bühnenbild für das Stück „Der Kaukasische Kreidekreis“, gespielt vom „Theater in der Kreide“. Foto reka

BrechtsKreidekreisaufgeführt

Schulhof diente zum Auftakt als Kulisse

WN 7. August 2000

Die münstersche Theatergruppe „Theater in der Kreide“ führte am Samstagabend Bertolt Brechts „Der Kaukasische Kreidekreis“ vor und im Forum der Gesamtschule auf.

Von Gisbert Wellerdiek · Havixbeck. „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht. Ein anspruchsvolles Schauspiel an einem lauen Sommerabend? Die eher mäßige Zuschauerzahl – kaum 50 – am Samstagabend im Forum der Gesamtschule als Antwort zu werten, wäre zu einfach, vor allem für die Besucher selbst. Sie alle kannten wohl ihren Brecht und seinen „Kreidekreis“, nicht aber die Inszenierung des Stückes durch die Theatergruppe TiK aus Münster, was so viel wie „Theater in der Kreide“ heißt.

TiK möchte nach eigenem Bekunden mit Idealismus und ohne Scheu vor großen Namen eigenwillige, dabei publikumsfreundliche Inszenierungen präsentieren. So kam ihnen Bertolt Brecht gerade recht, bietet er in seinem „Kreidekreis“ doch die szenisch-dramaturgische Möglichkeit, das Publikum immer wieder in das Geschehen auf der Bühne und vor der Bühne einzubinden. Am Samstagabend diente dazu sogar der Schulhof der Gesamtschule, der als volks- und publikumsnahe Kulisse zum Auftakt des Stückes diente. Darin lässt eine Gouverneursfrau auf der Flucht vor den Rebellen ihren eigen Säugling im Palast liegen. Grusche, ihre Magd nimmt das Kind zu sich und zieht es auf.

Jahre später muss ein Richter entscheiden, wem das Kind zugesprochen wird. Brechts „Kreidekreis“, 1947 in der Emigration entstanden, verändert die alte chinesische Legende im Rahmen eines marxistischen Denkmusters. Im Original und in den zahlreichen Variationen bringt es die wahre Mutter nicht über sich, ihr Kind aus dem Kreidekreis zu zerren, während die falsche gleichzeitig herzlos Gewalt anwendet. Bei Brecht ist es die falsche, schlichte Ziehmutter aus dem Volk, die dem Kind nicht weh tun will. Die leibliche Mutter adligen Geblüts wird als eingebildet, hochnäsig, roh und besitzgierig gezeichnet. Brecht stellt dem Recht auf Grund der Geburt das Anrecht gegenüber, das durch Arbeit, Fürsorge und Menschlichkeit, ja Mütterlichkeit erworben wird.Er definiert das Muttertum in seiner Weise sozial bis sozialistisch. Dazu passt auch der Handlungsort der Fabel: Elemente eines Volkstückes bilden hier eine Einheit und sind unauflösbar in einander verwoben. Ein Stück, das aufgrund seines grotesken enthüllenden Charakters hohe Anforderungen an die Schauspielkunst stellt. Brecht will mit dem Stilmittel der Überzeichnung wach machen und wach halten. Eine Intention, der das TiK-Ensemble am ‚Samstag gerecht wurde, vor allem, weil die grotesken Szenen gekonnt durchgetragen wurden, zum Lachen reizend, ohne lächerlich zu wirken. Wenn die Fußballtrainer-Weisheit stimmt, dass die Mannschaft der Star ist, dann trifft dies in eigener Weise auch für das TiK-Ensemble zu. Kein Star, der den oder die Mitspielerin an die Wand spielte, wenn auch die Rolle, etwa die der Grusche (Petra Schulte) oder des Gefreiten (Thomas Brieden) dazu noch so reizten. Nicht zuletzt das Ergebnis der unaufdringlichen Regie von Dr. Reinhard Stähling. Eine Inszenierung, die wünschen lässt, dass TiK nicht zum letzten Mal in Havixbeck war.


WN 29. August 2000

Kreidekreis vom Theater in der Kreide

Brecht im Kreativhaus

Eine Gouverneursfrau lässt auf der Flucht vor Aufständischen ihr eigenes Kind im Palast liegen. Das ist die dramatische Ausgangssituation die das Theater in der Kreide (TIK) mit dem Stück „Der Kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht in Szene gesetzt hat.
Was wäre, wenn eine Magd das Kind unter Gefahr für ihr eigenes Leben mitnähme? So viel Nächstenliebe? 

Dieser höchst unwahrscheinliche Fall wird von dem zehnköpfigen Ensemble um Regisseur Reinhard Stähling als saftiges Theatervergnügen, als Burleske, gespickt mit einem Schuss Musik inszeniert.

TIK verspricht kein Spiel der leisen Töne, sondern turbulentes und clowneskes Volkstheater. Am kommenden Freitag und Samstag jeweils um 20 Uhr spielt das freie Theater in der Kreide auf der Theaterbühne im Kreativhaus, Diepenbrockstraße 28, Telefon 36997.

Mit einer burlesken Inszenierung bringt Theater in der Kreide Bert Brechts Kaukasischen Kreidekreis auf die Bühne

WN 4. September 2000

Illusionen zerplatzen

Kreidekreis für TIK im Kreativhaus eine Zerreißprobe

Petra Schulte lässt als Ziehmutter die hysterische leibliche Mutter – in die Rolle schlüpfte Ulrike Casper – kreidebleich aussehen. Foto: -küp-.

Bertolt Brechts „Kaukasischer Kreidekreis“ als Burleske, als saftiges Theatervergnügen? Wenn das Theater in der Kreide (TIK) sich spielfreudig und grell der salomonischen Kreidekreis-Probe annimmt, wird das Brechtsche Lehrstück über die Gerechtigkeit zum turbulenten und clownesken Volkstheater. Die vielschichtige Fabel von der hilflosen Ziehmutter Grusche, die das hilflose Kind der Gouverneursfrau an Kinderstatt annimmt, wird zur Groteske mit offenem Ende und Streuselkuchen als Leichschmaus.
Schließlich wird bei Brecht einiges zu Grabe getragen. Wie am Ende des Stückes Seifenblasen zerplatzen, so platzen im Kreativhaus viele Illusionen. So beraubt Regisseur Reinhard Stähling das Stück keineswegs seiner politischen Sprengkraft.

Vielmehr ist das realistische Abbilden von sozialen Missständen in einer Parabel von grauenhafter Komik aufgehoben. Und die spielt TIK virtuos aus. Da wird durch groteskes Exerzieren der Krieg zur Farce. Da werden die Mächtigen zum degenerierten, näselnden Hofpopanz und der arme Dorfschreiber zum stotternden Großfürsten. Schließlich sind für Brecht nicht Macht und Geld die Verführer von morgen. „Schrecklich ist die Verführung zur Güte!“ 

In Brechts Kaukasischem Kreidekreis erliegen ihr die zwei Hauptfiguren: die Magd Grusche und Azdak, der listige, zugleich korrupte und gerechte Richter. Petra Schulte ist eine couragierte Ziehmutter, die die hysterische leibliche Mutter (Ulrike Casper) kreidebleich aussehen lässt. Aber vor allem Armin Kithners virtuoser mehrfacher Rollenwechsel vom Gerichteten zum Richter, vom todgeweihten Alibi-Gatten Jussup zum cholerischen Pascha mit Adolf-Bärtchen überzeugte. Auch Thomas Brieden schlüpfte bravourös von einer Rolle in die nächste. Während bei Brecht am Ende die wahre Mutter die Loslassende, weil um das Wohl des Kindes Umsorgte ist, wird der Kreidekreis für TIK zur offenen Zerreißprobe. Ist Güte zu einem Fremdwort geworden ?

Markus Küper