Gesammelte Lehrerfragen zu Vergleichsarbeiten

Diskussionsforum zu VERA

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Wer in Vergleichsarbeiten den letzten Monaten mit offenen Ohren durch die Lehrerzimmer ging, konnte so manche kritische Frage zu den Vergleichsarbeiten VERA aufschnappen. Die Fragen kommen auch von denen, die sich mit den umfangreichen Hinweisen der Landauer Forscher auseinander gesetzt haben. Meist hinter vorgehaltener Hand werden die wichtigsten Bemerkungen gemacht. Ich habe sie in Pausen und anderen Gesprächen aufgeschnappt, gesammelt und an anderer Stelle Antworten gesucht (Vgl. STÄHLING 2005b):


1. Wer erfand die Vergleichsarbeiten?

Haben die Forscher einige Lehrer zu Rate gezogen, als sie VERA gebaren?

Waren auch berufserfahrene »Schulmeister«, die als Klassenlehrer in der Grundschule Deutsch und Mathematik unterrichten, Geburtshelfer der VERA?

Falls ja, übernehmen diese Kollegen die Verantwortung für ihr Tun?

Ist den Forschern die Sicherung durchgeknallt, als sie die Möglichkeit erhielten, die Testdaten von Millionen Schülern eines Jahrgangs erheben zu dürfen?

Von wem kam das Geld für dieses aufwändige Projekt?

»Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing …«

Gibt es einen Schulbuchverlag, der mit den Vergleichsarbeiten kein Geschäft macht?

Merkwürdig: in einer Zeit, in der Großkonzerne die Belegschaft reduzieren und dabei die Gewinne steigern, beginnt sich die Forschung für den »Output« von Schule zu interessieren.

2. Der innerschulische Vergleich ist erwünscht, sagen die Väter der Vergleichsarbeiten –
Wer oder was wird verglichen?

Lehrerleistungen oder Schülerleistungen? Die Punktzahlen eines schwachen Schülers mit den Leistungswerten eines starken?

Die Arbeitsergebnisse von Kindern, die zuvor Aufgaben dieses Typs geübt hatten?

Gefälschte Daten eines Schülers mit denen eines anderen?

Die Anzahl der Kreuze an der richtigen Stelle, obwohl die Kinder die Aufgaben noch nie zuvor bearbeitet hatten und unvorbereitet nicht lösen konnten?

Haben Sie denn nicht geholfen, wenn ein Kind gar nicht wusste, worum es ging?

3. Wer vergleicht und was kommt heraus?

In den Büchern steht, dass die Lehrer es selbst tun.

Gibt es nicht einige Lehrkräfte, die Angst bekommen, wenn ihre Schüler wenig Punkte bekommen?

Üben Eltern sofort nach der Lektüre einiger Beispielaufgaben, die in der Tageszeitung zu finden sind, das Notwendige?

Und was üben die Lehrer dann?

An wen werden die Ergebnisse weiter geleitet?

Erfüllt der Schulaufsichtsbeamte seine Pflicht, wenn er den Daten der Vergleichsarbeiten keine Konsequenzen folgen lässt?

Wohin gehen am Abend, wenn die Ergebnisse in der Schulkonferenz der Öffentlichkeit preisgegeben werden, die Eltern? In den Büchern steht, dass es kein Ranking von Schulen gibt.

Wer verbietet den Eltern verschiedener Schulen, sich über den jeweiligen »Output« auszutauschen?

Wie ruhig ist der Mittagsschlaf des Lehrers, der als Schlusslicht der Schule enttarnt wurde?
Sollte dessen Ruhe und Gelassenheit nun ein Ende haben?

Was geschieht den »schwachen« Schülern, die dem Lehrer den »Schnitt« kaputt gemacht haben?
Gehören sie noch in diese Schule oder müssen sie in die Sonderschule? (vgl. STÄHLING 2005a)

4. Welches Bild vom Grundschullehrer haben die VERA-Forscher?

Lehrer haben ihre Aufgaben nicht ordentlich gemacht?

Sie fürchten den Vergleich?

Sie unterrichten ohne Ziel?

Sie prüfen nicht nach? Sie wissen nichts von der Lernausgangslage ihrer Schüler?

Sie haben – medizinisch gesprochen – die Diagnose nicht gestellt und blind eine Therapie begonnen?

Sie begehen »Kunstfehler«?

Deswegen sind also Mindeststandards von Staats wegen notwendig?

Vielleicht brauchen Lehrer mehr unbescheidene Ratschläge von Forschern, die keine Berufserfahrung mit dem Alltag in Grundschulen haben!?

Wem gelten die Vergleichsarbeiten?

Den faulen Säcken?

5. Wie lernt ein Kind im 3. oder 4. Schuljahr aus Sicht der VERA-Experten?

Lernt es besonders gerne, wenn die Stoppuhr den Taktstock schwingt?

Lernt es, weil es schlechte Zensuren fürchtet?

Lernt es, wenn die Eltern dahinter sitzen? Lernt es besonders gut unter Stress?

Oder ist das Gegenteil der Fall?

Was können die Kinder unter Klausurbedingungen schaffen?

Können sie auch ohne Vorbereitung und Übung unbekannte Aufgaben ohne Hilfe und Ermutigung bewältigen?

Sind 100 Jahren Reformpädagogik genug? – Muss Schluss sein mit der »Idealisierung und Romantisierung« des Kindes?

Reformpädagogische Praktiken wie »Freie Arbeit« oder »kindgerechte Umgebung« lenken viele Kinder vom Lernen ab?

Alle 10 Jahre eine neue pädagogische Modewelle?
Wer bezahlt die Spesen? So viele Fragen.

»Immer so durchgemogelt« ist der Titel eines Buches, in dem WALTER KEMPOWSKI (1974) Antworten gesammelt hat, die ihm Erwachsene auf die Frage »Was blieb von der Schulzeit?« gegeben hatten. Die Befragten erinnerten sich u.a. an mehr oder weniger erfolgreiche Täuschungsversuche. Das Phänomen des Täuschens könnte man als Bestandteil von Schule bezeichnen. Ein anderes Phänomen gehört ebenso zu den Schul-Tabus: die Täuschung über das, was im Schulalltag wirklich stattfindet und welchen »Output« die Schule tatsächlich erbringt.
Da inzwischen die Bildungsforschung in aller Munde ist, könnte der Eindruck entstehen, dass in Zeiten von PISA qualifizierte Forschung in schulen zum Alltag gehörte. Es kommen Zweifel auf (vgl. z.B. die Beiträge in: Grundschule aktuell 1/2005 und Grundschule 3/2005).

Wenn sich Forscher bei der Datenerhebung im wettbewerbsorientierten deutschen Schulsystem bei Lehrern, Eltern und Schülern auf das Zurückstellen eigener Wünsche und Absichten verlassen, ignorieren sie in ihren Analysen das Selektionsprinzip unseres Bildungswesens. Ihre Schlussfolgerungen sind leider unbrauchbar, weil sie im Elfenbeinturm entwickelt wurden.

REINHARD STÄHLING
Grundschulleiter, Münster

Literatur
KEMPOWSKI, WALTER 1974: Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere schulzeit. Hamburg: Knaus
STÄHLING, REINHARD 2005a: Der aufhaltbare Abstieg des »schwachen« Schülers in Deutschland. Bildungsbenachteiligung im Schnittpunkt von Schule und Jugendhilfe. In: Die Deutsche Schule, 97, 2005, 1, S. 67–77
STÄHLING, REINHARD 200515: Qualitätsentwicklung statt vergleichsarbeiten. Zu einem unfruchtbaren Verhältnis von Forschung und schule. In: Die Deutsche Schule, 97, 2005, 2 (Mai)