Stoffliche Hürden und Inklusion

Erschienen in Grundschule aktuell, S. 24–26, Heft 122, Mai 2013

In seiner Abhandlung »Vom Konstrukt der Rechenschwäche zum Konstrukt der nicht bearbeiteten stofflichen Hürden (nbsH)« schreibt der Mathematikdidaktiker Wolfram Meyerhöfer (2011) über das Phänomen, was jeder erfahrenen Lehrerin bekannt ist: Ein Schüler hat einen Unterrichtsinhalt nicht verstanden und eine nicht ausreichende Leistung in diesem Stoffgebiet nachgewiesen, aber dennoch wird die Lehrkraft den neuen Unterrichtsstoff, der auf dem nichtverstandenen vorherigen aufbaut, in der nächsten Unterrichtsreihe »durchnehmen«.

Sie tut so, als habe dieser »Mangel« oder das »Ungenügen« in dem Stoff für die nächsten Unterrichtsstunden keine Bedeutung, obwohl ein Schüler die Grundlagen offensichtlich noch nicht beherrscht und die Mängel »in absehbarer Zeit nicht behoben werden« können. Keine Lehrkraft ist frei von diesem Dilemma. Wie soll man jedem gerecht werden, wenn man alleine vor der Klasse steht?
Wir versuchen in der Grundschule Berg Fidel dafür zu sorgen, dass niemand alleine mit seiner Klasse arbeiten muss. Das ist in den meisten Schulen denkbar, selbst wenn keine Sonderpädagogen an Bord sein sollten. Studenten, ehrenamtliche Helfer oder Eltern, aber auch der Einsatz der Kräfte für den Ganztag im Unterricht würde dies ermöglichen.

Ein Beispiel aus unserem Schulalltag in Berg Fidel (vgl. Stähling/Wenders 2012): Ich möchte den Kindern die schriftliche Multiplikation vermitteln und stelle fest, dass das 1 x 1 noch nicht bei allen Drittklässlern »sitzt«. Wir wiederholen täglich die 1 x 1-Reihen und üben daran. Dann glaube ich, dass ich die Lernvoraussetzungen geschaffen habe, um nun mit dem Verfahren der schriftlichen Multiplikation zu beginnen. Aber ich sollte mich nicht täuschen: da gibt es nämlich Linda, die langsamer lernt. Sie kann das 1 x 1 noch nicht sicher.
Um ihr aber das schriftliche Verfahren zu zeigen, stelle ich ihr Aufgaben, die sie sicher bewältigen kann, weil sie schon die 2er-Reihe beherrscht: 234 x 2, also Aufgaben ohne Zehnerübergang. Erst nach mehreren Tagen ist sie sicher und wir können auch Aufgaben des Types 456 x 2 wagen, um im zweiten Schritt auch den notwendigen Zehnerübergang zu trainieren. Hier bewegen wir uns noch im Bereich der 2er-Reihe.
Wird aber das Gebiet schwieriger, z. B. durch die Faktoren 6, 7, 8, 9, so kann ich davon ausgehen, dass sie es sich nicht zutraut und auch daran scheitert, weil sie die 6er-Reihe z. B. nicht beherrscht. Wir brauchen länger. Die schwierigeren Aufgaben benötigen das sichere 1 x 1. Also machen wir eine Unterbrechung im schriftlichen Verfahren und trainieren täglich weiter – über mehrere Wochen, bis das ganze 1 x 1 sitzt. Jetzt kommen wir zurück zum schriftlichen Verfahren – und siehe da: Linda ist stolz auf ihre Leistung. Harte Arbeit hat sich gelohnt.

Wie leicht wäre es gewesen, zu sagen, dass sie die Wiederholung des 1 x 1 selbstständig zu Hause hätte erledigen müssen – weil sie es aber nicht genügend tat, »sind wir nicht verantwortlich für ihr Scheitern«. Wer aber scheitert hier eigentlich?

Lehrerinnen und Lehrer wollen doch schon seit langem wissen, wo die »stofflichen Hürden« oder »kritischen Stellen « in ihrem Fachgebiet liegen und wie sie im Unterricht gut bearbeitet werden können, damit alle Schülerinnen und Schüler diese Klippen überwinden können. Wer hilft hier weiter? Der Schuber des Grundschulverbandes für Deutsch, Mathematik und Basiskompetenzen (Bartnitzky/Hecker/Lassek 2012) gibt wichtige Hinweise. Für das Fach Mathematik stellt Wolfram Meyerhöfer (2011) das Problem der »stofflichen Hürden« überzeugend heraus. Er zeigt, dass so genannte »Rechenschwäche« darauf zurückzuführen ist, dass ein Kind z. B. die Hürde der Ablösung vom zählenden Rechnen noch nicht genommen hat. Dies erfordert fachdidaktische Kenntnisse und Erfahrungen mit dem Zahlbegriffserwerb bei Kindern: »Es geht nicht mehr darum, früh zu erkennen, wer krank oder wer anfällig ist für eine Krankheit. Statt dessen geht es darum, zu verstehen, wo das Kind im Lern- und Verstehensprozess steht und es von dieser Stelle ausgehend begleitet werden kann« (Meyerhöfer 2011, S. 413). Das ist keineswegs selbstverständlich, wenn man eine Klasse mit 25 Kindern zum Ziel bringen muss.

Auf diese Herausforderung versuchen wir in der Grundschule Berg Fidel eine Antwort zu finden, die sowohl die fachdidaktischen Anforderungen berücksichtigt als auch die Lernerfolge bei jedem Einzelnen in den Blick nimmt. Dazu beginnen wir Um ihr aber das schriftliche Verfahren zu zeigen, stelle ich ihr Aufgaben, die sie sicher bewältigen kann, jeden Morgen in der Sonnenblumenklasse mit der freien Arbeit am »Gemeinsamen Gegenstand«: Zuerst starten alle Kinder mit z. B. für sie speziell angebotenen Aufgaben (in Heft, Buch und mit Material) zum 1 x 1. Dabei sind wir in der Regel doppelt besetzt (da wir ca. 7 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in jeder Klasse haben) und konzentrieren uns auf jedes einzelne Kind mit seiner Lernentwicklung (vgl. ausführlich zum Unterricht: Stähling/Wenders 2012). Entlastend kann es auf uns Lehrerinnen und Lehrer auch wirken, wenn wir die wissenschaftliche Literatur sichten, um die Frage zu beantworten: Was müssen unsere Kinder im Kern z. B. in Mathematik und Deutsch lernen?
Hilfreich dabei sind die Bände von Bartnitzky/Hecker/Lassek 2012. Für Mathematik nennt Meyerhöfer (2011) – abgeleitet aus der Forschung über Rechenschwäche – folgende basalen, mathematischen Inhalte, die wirklich verstanden werden müssen:

  • Zahlbegriffe und Ablösung vom zählenden Rechnen
  • Stellenwertsystem
  • Operationslogik Welche Fragen stellen die Rechenoperationen und wie beantworten sie diese Fragen?
  • Besonders die Operationslogik der Division

Ein weiteres Beispiel dafür, wie wir stoffliche Hürden bearbeiten, stammt aus dem Rechtschreibbereich. Eine einfach erscheinende Frage stelle ich mir dabei vorab: Wie lernen Kinder, dass Wörter am Anfang groß bzw. klein geschrieben werden? Da ist der Drittklässler Achmet, der noch ganz mit dem Abhören der Laute im Wort beschäftigt ist. Er kann zwar schon lautgetreu schreiben, aber noch achtet er nicht auf Groß- oder Kleinschreibung.
Andere Kinder, auch Zweitklässler, haben sich inzwischen angewöhnt, immer mehr darauf zu achten. Achmet nicht – und wenn wir ihm dies nicht beibringen, kann es sein, dass er noch im 5. Schuljahr Unsicherheiten in diesem Bereich hat.
Achmet, wie auch andere Kinder, die an dieser »kritischen Stelle« arbeiten, bekommen in dieser Entwicklungsphase (in der altersgemischten Lerngruppe in Berg Fidel) ein regelmäßiges und vor allem passendes »Wort-Diktattraining«, bei dem immer wieder Wort für Wort geprüft wird, ob ein möglichst lautgetreues Wort groß oder klein geschrieben wird: malen, Hose, Hase, laufen, kaufen, Oma, grün, laut, Tisch usw.
Die wiederholte Erklärung der Regel, dass ein Nomen groß geschrieben wird, kann ihm alleine nicht behilflich sein. Er muss das Phänomen »Nomen« erst richtig verstehen. »Alles, was ich anfassen kann … «, ist schon mal ein Prüfkriterium. Oder fast immer kann ich eine Probe mit dem Nomen machen: ein Haus – viele Häuser, eine Lampe – viele Lampen. Aber die stofflichen Hürden oder die kritischen Stellen liegen nicht nur im Verstehen alleine, sondern auch in dem Phänomen des Schreibens selbst: Erst prüfen, dann schreiben. Dies zu automatisieren, geht nicht ohne Training.
Achmet lernt nun, vor dem Schreiben des Wortes darauf zu achten und sich auf die Prüf-Frage (anfassen oder nicht?) zu konzentrieren. Dabei müssen auch die Wörter in ihrer Bedeutung geklärt werden, die ein Migrantenkind noch nicht kennt. Schritt für Schritt automatisiert sich die Probe des Wortes bei Achmet immer mehr. Dieses Prüfen eines Wortes vor der Schreibung scheint banal zu sein, aber wird zuweilen bei einigen Kindern vernachlässigt und führt geradewegs zu Rechtschreibproblemen, die sich zu einer großen Unsicherheit im Jugendalter auswachsen können.

In den »nicht bearbeiteten stofflichen Hürden« liegen die Ursachen dafür, dass ein Teil der Schülerinnen und Schüler die Basisfähigkeiten in der Schule nicht erlernen. Statt die »Stofflichen Hürden« anzugehen, versuchen einige Lehrkräfte – auch bei nicht behinderten Kindern – , eine im Individuum liegende Krankheit mit dem Namen »Rechenschwäche« oder »Dyskalkulie« für das Nichtverstehen verantwortlich zu machen. Die Schule fühlt sich spätestens nach erfolglos durchgeführtem Förderunterricht aus der Verantwortung entlassen und verweist – entgegen ihrem gesellschaftlichen Auftrag – aufaußerschulische Hilfen. Die betroffenen Kinder kommen »in den Genuss« öffentlich finanzierter Therapien, wenn bei ihnen im Sinne des § 35a SGB VIII im Falle von »Dyskalkulie« oder »LRS« die »Bedrohung von seelischer Behinderung« oder eine »seelische Behinderung« festgestellt wird.
Die Schule selbst hat aber die Pflicht, die »stofflichen Hürden«, die »kritischen Stellen« des Lerngegenstands gezielt und intensiv zu bearbeiten, sodass alle Schülerinnen und Schüler die Kernelemente der Mathematik und der Sprache, die Basisfähigkeiten, wirklich erwerben, um am gesellschaftlichen Leben erfolgreich teilhaben zu können. Diese Kernelemente oder Schlüsselqualifikationen sind ohne Ausnahme jedem Kind zu vermitteln. »Schlechte Schüler gibt es nicht!«, hieß es schon 1989 bei Iris Mann.

Selbst dann, wenn man der Schule noch immer die (historisch gewachsene) gesellschaftliche Auslesefunktion zuschreiben will, dürften die erwähnten Schlüsselqualifikationen – wie das Verstehen des Zahlbegriffs – niemals Gegenstand von Selektion (vgl. Meyerhöfer 2011, S. 418 ff.) sein. Sie dürften nirgends erfolglos unterrichtet werden.
Alle »Zentralen Elemente von Qualifizierung und Integration« – z. B. die stofflichen Hürden aller Lernfelder und die grundlegenden sozialen Fähigkeiten – sind »aus dem Selektionsprozess herauszunehmen« (Meyerhöfer 2011, S. 419). In der Schule darf es gar nicht möglich sein, dass ein Schüler in den Bereichen Mathematik, Lesen und Schreiben die Kernelemente – gemäß seiner Möglichkeiten – nicht lernt. Menschen, die im Jugendalter als Analphabeten entdeckt werden und kaum grundlegende Kenntnisse in der Mathematik aufweisen – was nicht selten geschieht –, stellen dem deutschen Schulsystem, den Schulen und Lehrkräften ein Armutszeugnis aus. Bei jedem dieser genannten jugendlichen Analphabeten oder Rechenschwachen« müssen umgehend die im Lerngegenstand selbst liegenden »Stofflichen Hürden« bearbeitet werden, um entwicklungslogische Lernprozesse (vgl. Feuser 2011) einzuleiten. Alle anderen schulischen Aufgaben müssen für diese Schüler vorerst zweitrangig sein. Dies wird in der Praxis vieler Schulen in Deutschland vernachlässigt. »Die Institution unterwirft zweifellos alle Schüler der Auslese. Will sie auch für alle Verständnis herstellen? Offenbar nicht: Nach der Klassenarbeit erfolgt ja gerade nicht die Herstellung von Verständnis bei jenen Schülern, die gescheitert sind. Es liegt also ein Primat der Auslese vor dem Verstehen vor. Die Institution fühlt sich nicht dafür verantwortlich, dass jeder die Inhalte versteht, sondern dass jedem die Inhalte präsentiert werden« (Meyerhöfer 2011, S. 418).

Aber alle Kinder (ohne Ausnahme) haben das Recht auf Teilhabe. Sie sind die künftigen Bürger des Landes und sollen in einer demokratischen, multikulturellen Gesellschaft an der Lösung der Zukunftsprobleme mitwirken. Dazu brauchen sie natürlich Schlüsselqualifikationen in Sprache und Mathematik. Sie haben ein Recht darauf, sich an der Gestaltung und Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung zu beteiligen. Jede Schule muss Erfolge sicherstellen können.
In der Schule der Zukunft geht es darum, den nachkommenden Generationen das Handwerkszeug bereitzustellen, mit dem sich ALLE daran beteiligen können, die Schlüsselprobleme der Menschheit anzugehen. Das Verstehen von Sprache und Mathematik ist nicht die einzige Aufgabe der Schule, wenn auch eine zentrale und grundlegende. So werden im Klassenrat (vgl. Stähling 2006/2011, S. 75 ff.) Konflikte gelöst und alle übernehmen Verantwortung für sich und andere.
Und falls Kinder behaupten, dass sie sich beim Rechnen durch den Mitschüler Max gestört fühlen, weil dieser so laut ist, muss dies im Lernklassenrat gemeinsam besprochen und in der Schule zufriedenstellend gelöst werden. Der Unterricht kann sich entsprechend ändern. Kinder können an der Lösung von wichtigen zwischenmenschlichen Problemen mitwirken. Sie lernen, andere besser zu verstehen, ihre Wünsche zu äußern und friedliche Konfliktregelungen zu finden. Sie vereinbaren Regeln für das kooperative Lernen und erfahren, wie mit ihnen konstruktiv umzugehen ist. Sie entdecken sogar, wie man selbst Regeln verändern und selbstverständliche Denkschemata hinterfragen kann: eine hohe Kunst für die Demokratie.
Dass ich das Wort Inklusion in diesem Text nicht gebraucht habe, war Absicht. Erst wenn wir wirklich jedes Kind dazu bringen, dass es die Schlüsselqualifikationen bei uns in unserer Klasse erfolgreich lernt, erst dann – so meine ich – können wir anfangen, dieses Wort zu benutzen.

Literatur
Bartnitzky, Horst/Hecker, Ulrich/Lassek, Maresi (2012): Individuell fördern – Kompetenzen stärken. Frankfurt/M.: Grundschulverband.
Booth, Tony (2012): Der aktuelle »Index for Inclusion« in dritter Auflage. In: Reich, Kersten (Hrsg.): Inklusion und Bildungsgerechtigkeit Weinheim: Beltz, S. 180–204.
Feuser, Georg (2011): Entwicklungslogische Didaktik. In: Kaiser, Astrid I Schmetz, Ditmar/Wachtel, Peter/Werner, Birgit (Hrsg.): Didaktik und Unterricht. Stuttgart: Kohlhammer, S. 86–100.
Mann, Iris (1989): Schlechte Schüler gibt es nicht. Weinheim: Beltz.
Meyerhöfer, Wolfram (2011): Vom Konstrukt der Rechenschwäche zum Konstrukt der nicht bearbeiteten stofflichen Hürden (nbsH). In: Pädagogische Rundschau 65, 4, S. 401–426.
Stähling, Reinhard ( 2011): Du gehörst zu uns. Inklusive Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider.
Stähling, Reinhard/Wenders, Barbara (2011): Ungehorsam im Schuldienst. Der praktische Weg zu einer Schule für alle. Baltmannsweiler: Schneider.
Stähling, Reinhard/Wenders, Barbara (2012): »Das können wir hier nicht leisten« – Wie Grundschulen doch die Inklusion schaffen können. Ein Praxisbuch zum Umbau des Unterrichts. Baltmannsweiler: Schneider.

»Das können wir hier nicht leisten! Wie Grundschulen doch die Inklusion schaffen können« – so lautet der provozierende Titel des neuen Buches unseres Autors Reinhard Stähling und seiner Kollegin Barbara Wenders (272 S., 19,80 €, Baltmannsweiler 2013: Schneider Verlag Hohengehren).

Die beiden erfahrenen Pädagogen beschreiben das Leben und Lernen in ihrer Klasse, die freien Arbeitsphasen, das Entdecken der Kinder, die gemeinsamen Waldgänge. Es geht um den »sozialen Kredit« den jedes Kind hat. Hier liest man von ernsthaft in ihre Arbeit versunkenen Kindern, die Vertrauen gefunden haben. Wie dies gelingen kann und welche Aussonderungsmechanismen Schulen zu überwinden haben, wird ausführlich dargestellt. Das Buch bietet Hilfen und ist eine Kraftquelle, Unterricht zu verändern. Es ist eine Fundgrube für alle Pädagogen und ermutigt, leichthändig den eigenen Unterricht für das Leben zu öffnen. Faszinierende Fotos von Donata Wenders lenken den Blick auf die Würde der Kinder und Erwachsenen.