erschienen in E&W 06/2013
Verantwortliches Lehrerhandeln sollte das Wohl und Interesse des Kindes im Blick haben. Das geht manchmal gegen die Interessen der Eltern, manchmal gegen die der Pädagoginnen und Pädagogen. Ein Beispiel aus dem Schulalltag, in das Erfahrungen der Grundschule „Berg Fidel“* in Münster eingeflossen sind.
Ali ist ein „schwieriger“ Junge. Nun steht eine Klassenfahrt an und er soll nicht mit. Als Grund nennen die Eltern, dass das Kind in einem fremden Bett nicht schlafen könne und außerdem manchmal schlafwandle. Mit Hilfe eines ärztlichen Attests wird dem Wunsch auf Befreiung Nachdruck verliehen. Eltern und Klassenlehrerin einigen sich „im gegenseitigen Einvernehmen“ darauf, dass Ali für die Dauer der Klassenfahrt in einer anderen Lerngruppe am Unterricht teilnimmt. Die Familie sagt, das Kind wolle dies auch, zumal Alis Cousine Schülerin der anderen Klasse ist.
Ist solch eine Abmachung zu verantworten oder widerspricht sie dem Recht des Kindes auf Teilhabe an der Klassenfahrt? Eine konkrete Analyse dieser „einvernehmlichen Lösung“ bringt folgende Aspekte an den Tag:
Das Interesse der Eltern: Sie sind verschuldet, arbeiten beide so viel sie können und haben wenig Zeit für ihre Kinder. Sie wollen sich der Schule gegenüber nicht die Blöße geben und eingestehen, dass sie das Geld für die Klassenfahrt nicht aufbringen können. Unterstützungsleistungen beantragen sie erst gar nicht. Sie haben ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Kindern, weil sie sich zu wenig leisten können. Deshalb erfüllen sie ihnen möglichst viele Wünsche, die nichts kosten. So darf ihr Nachwuchs nachts er eine Freistellung als mögliche Oplange aufbleiben und jederzeit Computerspiele nutzen. Ali scheint seinen Willen zu Hause oft durchsetzen zu können. Es stellt sich heraus, dass die Eltern so eng ist, dass diese nicht wagen, ihr Kind für eine Nacht zum Beispiel bei Freunden oder Bekannten schlafen zu lassen. Mutter und Vater können „nicht loslassen“. Sie fürchten, dass ihr Sohn sich in fremder Umgebung nicht an Regeln halten würde und lassen ihn deshalb selten woanders übernachten. Der Arzt rät von der Teilnahme an der Klassenfahrt ebenfalls ab, weil er von den Eltern weiß, dass Ali schon einige Male nachts desorientiert aufgestanden sei und sich nicht zurechtgefunden habe. Einmal, als sie ihn alleine ließen, sei sogar ein Unfall in der Wohnung passiert. Da der Arzt nicht einschätzen kann, welche Rahmenbedingungen bei der der Klassenfahrt gelten, befürwortet er eine Freistellung als mögliche Option. Die Eltern legen das Attest der Schule vor und hoffen, dass die Befreiung bewilligt wird. Sie sorgen sich, dass die dass man von ihrem Kind dennoch verlangen könne, es zu versuchen.
Überforderte Pädagogen
Das Interesse der Lehrkräfte: Es stellt sich auf Nachfrage heraus, dass Ali in der Klasse wenig integriert ist. Er hat keinen Freund und streitet sich häufig mit anderen Mitschülern. Den Pädagoginnen und Pädagogen gelingt es meist nicht, ihn nach Auseinandersetzungen zu beruhigen. Der Junge will sich überall behaupten und sie fühlen sich überfordert. Insofern wären sie „nicht böse drum“, wenn der Schüler nicht mitfahren würde. Sie sehen es zwar als ihre Dienstpflicht, Ali mitzunehmen, wären aber erleichtert, wenn die Schulleiterin das Kind von der Fahrt „befreien“ würde. Und empfänden es vielleicht sogar als „Gewinn“ für die Klassenfahrt. Zudem sei die „elterliche Zahlungsmoral“ bei allen schulischen Veranstaltungen sehr schlecht, könnte argumentiert werden. Die Klassenlehrerin müsse immer „hinter dem Geld herlaufen“.
Das Interesse des Kindes: Ali möchte nicht mitfahren und behauptet immer wieder, er könne in der Jugendherberge nicht schlafen. Zugleich leidet er unter seiner Außenseiterrolle in der Klasse. Für ihn wäre eine Gemeinschaft notwendig, die sich mit seinem Problem befasst und Hilfen anböte. Vor allem bräuchte er eine Lehrerin, die ihn versteht und sich traut zu sagen, dass jedes Kind mitfährt, egal welche Probleme es mitbringt. Ein Klima der Zugehörigkeit („Du gehörst zu uns!“) und des Zutrauens („Wir schaffen das trotzdem!“) würde Wunder bewirken. Das Kind hat ein Recht darauf, dass es ermutigend aufgenommen wird.
Es wäre auch denkbar, mit dem Arzt zu sprechen und eine gemeinsame Lösung zu vereinbaren. „Ich kann mich aber nicht um alles kümmern“, wird manch eine Klassenlehrerin jetzt einwenden, „das müssten schon die Eitern selbst tun!“ Was ist aber, wenn Mutter und Vater „nichts tun“? Mit Sicherheit ist Ali nicht schuld an seiner Situation. Muss er nun ausbaden, was aus irgendwelchen Gründen nicht geht? Stehen wir als Lehrkräfte nicht in einer ethischen Verpflichtung ihm gegenüber?
Selbst die Frage der Kosten für eine Klassenreise kann offen angesprochen und im Vertrauen mit Hilfe eines Fördervereins gelöst werden. So habe ich z. B. in einem Fall erlebt, dass ein Vater erst dann der Fahrt zustimmen konnte, als er selbst in der Lage war, einen kleinen finanziellen Beitrag zu leisten. Ich habe ihn dann ganz einfach gefragt: „Wie viel können“ Als er verlegen zehn Euro auf den Tisch legte, erwiderte ich, dass alles in Ordnung sei und wir den Rest regeln würden. Er konnte mir von da an wieder in die Augen sehen. Zuvor gab ich ihm sehr klar zu verstehen, dass sein Kind auf jeden Fall mitfahren müsse; das sei Schulpflicht, auch wenn er nicht genug Geld dafür hätte.
In Alis Fall könnte das Kollegium den Eltern anbieten, dass sie abends um 22 Uhr zur Jugendherberge kommen und vor Ort selbst entscheiden, ob sie ihr Kind nach Hause zum Übernachten mitnehmen wollen. Vielleicht ließen sie Ali dann eher los und schenkten den Lehrkräften Vertrauen.
Wir wissen aus Erfahrung, dass eine Klassenfahrt viel bewegen kann. Eine wertvolle Entwicklungschance wäre vertan, wenn Ali nicht mitfahren könnte. Berufsethos und unser Gewissen sagen uns Pädagogen doch, dass das richtig ist und ihm vermittelt wird: „Du gehörst zu uns!“ Alis Recht auf Teilhabe ist aber erst dann verwirklicht, wenn auch sein Problem einen Platz findet.
Verpflichtung der Schule
Das Recht des Kindes wäre in Gefahr, wenn Lehrkräfte und Eltern sich „einvernehmlich“ auf die Befreiung von der Klassenfahrt einigten. Zwar hätten alle Seiten einen vermeintlichen Vorteil, die eigentliche Problematik wäre jedoch Dem Kind vermitteln: „Du gehörst zu uns!“ vom Tisch gewischt und die Lehrkräfte hätten sich der Herausforderung nicht gestellt.
Im Gegensatz zu einem profitorientierten Betrieb besteht die ethische Verpflichtung der Schule darin, Bedingungen zu schaffen und auch durchzusetzen, unter denen sich jedes Kind – nicht nur das angepasste – mit seiner speziellen Besonderheit am Zusammenleben der Klasse beteiligen kann. Die Erfahrungen besonders in Integrationsschulen zeigen, dass das unterschiedlich funktioniert. Flexible Lösungen sind in jedem einzelnen Fall gefragt. Sie werden erleichtert durch:
- multiprofessionelle Pädagogenteams in jeder Klasse,
- Rückendeckung durch die Schulleitung und Schulaufsicht,
- regelmäßige Beratung und Supervision,
- aufsuchende Elternarbeit durch Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter.
Wir könnten uns viele Gespräche sparen, wenn von vornherein klar wäre, dass ein Kind wie Ali auf jeden Fall auf Klassenfahrt mitkommt. Möglicherweise wäre dann nicht mal der Arzt auf die Idee gekommen, ein Attest zu schreiben. Nebenbei sei noch erwähnt, dass eine sogenannte Win-Win-Lösung („im Einvernehmen“) nicht nur pädagogisch und ethisch, sondern auch rechtlich unzulässig sein kann, weil sie unter Umständen die Rechte der Kinder missachtet.
Reinhard Stähling, Lehrer und Schulleiter der Grundschule Berg Fidel
Die inklusive Grundschule ist bekannt geworden als eine, die alle Kinder des Bezirks aufnimmt. Hier wurde der preisgekrönte Dokumentarfilm von Hella Wenders „Berg Fidel – Eine Schule für alle“ gedreht (s. E&W 11/2012), der jetzt auch als DVD erhältlich ist. Bestellungen über: bestellung@wfilmcom
Weiterlesen in: Stähling, Reinhard: Du gehörst zu uns. Inklusive Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider 2006, 4. erweiterte Auflage 2011
Stähling, Reinhard/Wenders, Barbara: Ungehorsam im Schuldienst. Der praktische Weg zu einer Schule für alle. Baltmannsweiler: Schneider 2009, 2. erweiterte Auflage 2011
Stähling, Reinhard / Wenders, Barbara: Das können wir hier nicht leisten
Wie Grundschulen doch die Inklusion schaffen können. Praxisbuch zum Umbau des Unterrichts. Baltmannsweiler: Schneider 2012, 2. Auflage 2013