Langformschule von 1 bis 10 als „Schule ohne Schulversagen“
»Wem unser Programm zu erhaben erscheint, der soll daran denken, dass man stark aufsteigen und hoch empor fliegen muss – um dann langsam sinkend, dennoch viel Weg zurückzulegen. Wem unser Programm vielleicht zu phantastisch erscheint, der soll daran denken, dass ein eiserner Motor alleine nicht genügt, um in der Höhe zu schweben, sondern auch – Flügel sind nötig … «
Janusz Korczak zur Eröffnung des Dom Sierot, 1913, SW Bd. 9, 199 f
»Ich habe nicht alles kapiert«
»Seit 20 Jahren bleiben etwa 15 % eines Altersjahrgangs der nachwachsenden Generation ohne eine Ausbildung in einem ‚ anerkannten Ausbildungsberuf. Dies ist der niedrigste Wert in der Geschichte des beruflichen Bildungswesens in Deutschland« (Rademacher 2011). 2015 haben 47435 Jugendliche ihre Schule ohne Schulabschluss verlassen. Laut Caritas-Studie stieg diese Quote 2017 bundesweit von 5,7 % auf 5,9 % noch an (vgl. Liessem 2017). Über 5000 junge Menschen verließen 2017 in NRW die Schule ohne jeglichen Abschluss. Sie können kaum sinnentnehmend lesen oder einfache Sätze schreiben und beherrschen die Grundrechenarten nicht. Wie konnte es dazu kommen?
a) Sind Lehrer fachdidaktisch nicht genug befähigt?
b) Sind Lehrer für das Schulversagen verantwortlich?
c) Gibt es Möglichkeiten für die Lehrer, innerhalb des Schul-Systems, das Schulversagen zu verhindern?
d) Wie soll die einzelne Schule geändert werden, damit Schulversagen vermieden wird?
a) Fachdidaktische Kompetenzen der Lehrer
Kann ich als Lehrer dazu beitragen, dass Kinder den »Stoff« verstehen, wenn ich ihn selbst nicht sicher beherrsche? Hier ist die Fachlichkeit gefragt.
Aber die hier angesprochene fachliche Erfahrung ist nicht gleichzusetzen mit dem Studium des Faches. Um Schülern beim Lernen sinnvolle Unterstützung geben zu können, brauchen Lehrer Erfahrungen und Kenntnisse über »stoffliche Hürden« (vgl. Meyerhöfer 2011) des Fachgebietes und »kritische Stellen im Lernprozess« (vgl. Bartnitzky u. a. 2013). Diese Erfahrungen gewinnen sie in der verlässlichen pädagogischen und fachlichen Beziehung. Welcher Gedanke steckt z. B. hinter der fehlerhaften Zahlenreihe eines Kindes, das folgendermaßen in Schritten zählt: 500, 600, 700, 800, 900, 1000,2 000, 3000 .. . und dann schließlich bei 9900 als nächstes die 100.000 erwartet? An welchen Stellen scheitern immer wieder die Lernenden, wenn sie sich einen Lerngegenstand aneignen? Mit welchen Fehlern rechnen wir als Lehrer? Was sagen diese Fehler darüber aus, wie das Kind etwas versteht?
Das fachliche Lernen ist in manchen Klassen zu einer Fassade erstarrt, einer Karikatur seiner selbst. Es dient nicht dem Lernen, sondern es gleicht einem »Durchnehmen des Stoffes«, um es im Klassenbuch dokumentieren zu können, dass »wir es gemacht haben«.
Lernen und Unterrichten sind ein Unterschied
Wenn Lehrer sagen, sie hätten das Fach nicht studiert, wollen sie vielleicht ausdrücken, dass sie als »Unterrichtende« ihren »zu unterrichtenden Schülern « »nicht genug Stoff bieten können«, z. B. im Fach Musik, weil sie selbst kein Instrument spielen. Sie haben den Anspruch, »Meister in ihrem Fachgebiet « zu sein und als Meister sollten sie den Lehrinhalt beherrschen. Sie möchten ihn überzeugend vortragen und es den Schülern überlassen, den Inhalt zu begreifen. In diesem alten Bild vom Lehrmeister sieht die Lehrperson ihre Aufgabe nicht darin, einen Prozess zu erzeugen, der das Lernen bewirken kann, sondern darin, den Schüler zu »unterrichten«. Aktiv sind die Lehrer, die passive, entgegennehmende Rolle haben die Schüler. Ein Landesmeister im Turnen kann seinem Schützling den Handstandüberschlag beibringen, ein Klaviervirtuose kann einem Anfänger das Klavierspiel beibringen, so sieht es der Nicht-Fachmann. Jedoch weiß jeder, dass es auch Meister gibt, die nicht gut vermitteln können.
Richtig an diesem Vergleich ist, dass es sinnvoll ist, wenn eine Lehrperson sich selbst der Materie gestellt hat und eigene Erfahrungen damit hat. So sollte eine Lehrperson, die von ihren Schülern verlangt, dass sie einen freien Text schreiben, selbst Schreiberfahrungen mitbringen, um sinnvoll zum Schreiben ermutigen zu können.
Da das Lernen ein aktiver Vorgang ist, geht es bei einem effizienten Lernprozess darum, dass die Schüler selbst tätig sind. Das Kerngeschäft ist dabei, die Schüler zu unterstützen und ihnen die Ängste zu nehmen. Dafür muss die Lehrperson nicht das Fach studiert haben, wohl aber muss sie den fachlichen Problemen der Schüler mit der AufgabensteIlung gegenüber offen sein, sie am besten selbst erfahren haben und antizipieren können, kurz die »stofflichen Hürden« kennen. Fachliches Wissen und Erfahrungen und vor allem die eigene intellektuelle Fähigkeit können helfen, die Lösungsansätze zu der Aufgabenstellung gelassen und geduldig zu begleiten. Dann kann die» Differenzierung in der Aufgabe selbst« liegen, wie es vielfach in der Mathematikdidaktik gefordert wird (vgl. Häsel-Heide u. a. 2017; Benölken u. a. 2017).
b) Verantwortlichkeit der Lehrperson für das Schulversagen?
Schauen wir in eine »normale« Schulklasse«: Eine Lehrerin möchte ihren Schülern einen Lehrstoff »beibringen«. Sie bestimmt für sich ein Ziel, das sie am Ende der »Unterrichtsreihe« erreicht haben möchte. Dabei sieht sie vor ihrem inneren Auge häufig die Kinder oder Jugendlichen als eine einheitliche oder leistungsähnliche Gruppe, obgleich sie es nicht ist. »Auch der erste deutsche Inhaber eines Lehrstuhls für Pädagogik Ernst Christian Trapp (1745 bis 1818) hatte angesichts dieser unterschiedlichen Fähigkeiten innerhalb einer Klasse vorgeschlagen, den Unterricht organisatorisch und methodisch auf die Mittelköpfe zu kalkulieren« (Schlömerkemper 2017, S. 76).
Wenn wir als erfahrene Lehrer uns ehrlich prüfen, passiert uns dies immer wieder – wir sind also ständig gefordert, uns selbst zu \prüfen, ob wir wirklich wissen, wer unseren Lehrvortrag versteht..
Die Schüler bringen unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit: Einige sind bereits mit dem neuen Lernstoff vertraut, andere sind in Berührung gekommen und hoch motiviert, es endlich einmal schlüssig erklärt zu bekommen. Andere lassen sich begeistern und sind grundsätzlich offen für Neues. Ein anderer Teil der Schüler ist allerdings fachlich verunsichert, hat keine »Lust« auf eine neue Anstrengung und würde sich wünschen, das bisher Gelernte zu wiederholen und zu festigen. Für sie scheint inzwischen Mathematik viel zu schwierig zu sein. Das war es von Beginn an, als sie in die Schule kamen. Denn ihre Zahlvorstellungen sind in pränumerischen Phasen nicht geduldig aufgebaut worden. Manche Kinder waren z. B. schon im Kleinkindalter sich selbst überlassen und entwickelten eigene und verwirrte Logiken des Lebens und folglich auch der Zahlenwelt. Die Überforderung war von Anfang an erkennbar, aber diese Kinder wurden immer weiter »mitgeschleppt«, ohne Rücksicht auf deren wirklichen Lernstand.
Andere Schüler sind häufig krank und fehlen viel in der Schule. Ihre »Lernrückstände« sind angewachsen. Sie lassensich nicht mit anderen regelmäßig übenden Mitschülerinnen und Mitschülern vergleichen. Weitere Kinder und Jugendliche sind vorwiegend mit emotional aufwühlenden Dingen beschäftigt. Ihre Gefühlslage scheint so labil, dass sie am liebsten gar nicht in der Klasse säßen. Sie empfinden die Anwesenheit in der Schule als Zwang. Am Ende einer »Unterrichtsreihe« haben Schüler unterschiedlich viel von dem »Stoff« verstanden. Und dann folgt der Test. Erfahrene wissen schon vorher: Lehrer beurteilen Schülerleistungen mit dem Adjektiv »normalverteilt«. Dass einige Schüler versagen, erscheint ihnen normal zu sein. Nun folgt etwas, was lernpsychologisch ineffizient ist: Die Lehrperson nutzt nicht die Ergebnisse der Leistungsüberprüfung, um an den Fehlern zu erkennen, welche Lernprozesse für jedes Kind nun individuell passend folgen müssten. Vielmehr werden die Lernprozesse nach Ablauf der verfügbaren Zeit gerade jetzt beendet. Für viele Schüler eine selbstverständliche Normalität, die sie nicht hinterfragen. Sie haben verinnerlicht, dass »man eben nicht alles kapiert«.
Wohl bemerkt: Wir befinden uns in der Institution, die für das Lernen verantwortlich zeichnet – und dennoch wird hier etwas gemacht, was sich keine Fahrschule, keine Tauchschule leisten würde. Jörg Schlömerkemper (2017) erläutert dies: »Das Zynische und ernpsychologisch Unsinnige besteht darin, dass nach dem Motto „Neues Spiel, neues Glück“ das nächste Lernangebot folgt, obwohl die Schüler aus den zuvor absolvierten Lerneinheiten sehr unterschiedlich über die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Weiterlernen verfügen« (77).
Betroffene finden sogar eine solche Lernorganisation zuweilen im Sinne einer Chancengleichheit bei der Auslese als gerecht. Dass dabei Mitschülerinnen und Mitschüler »auf der Strecke bleiben«, weil sie von Beginn an wegen ihrer Vorgeschichte gar keine Chance hatten, den Anforderungen gerecht zu werden, wird hingenommen. Durch diesen geheimen Lehrplan verfestigt sich für viele Kinder die Weltsicht, dass »es nun mal gute und schlechte Schüler gibt«. Die Benachteiligung der »Mangelhaften« aufgrund fehlender Voraussetzungen wird wie ein Naturgesetz erlebt. »Schwache« Schüler verinnerlichen von sich das Bild des »Versagers« – »selbst schuld«. »Wer in einem thematisch-fachlichen Bereich nicht erfolgreich war, wird nicht gerade mit Zuversicht und Interesse an eine neue Aufgabe aus diesem Bereich herangehen. Differenzen kumulieren nicht nur inhaltlich-fachlich, sondern auch emotional-motivational. Die leistungsstärkeren Schüler gehen mit günstigen Voraussetzungen in die weiteren Lernphasen, weil sie sicherer als andere über die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen und emotional- motivational zuversichtlicher sein können« (Schlömerkemper 2017, S. 77). Lehrer spüren hier die Verantwortung, dass sie jedem gerecht werden müssen, aber sie finden häufig keinen Weg.
c) Was können Lehrer machen, um Schulversagen zu verhindern?
Damit wir diese Abwärtsspirale durchbrechen, ist ein anderes Vorgehen erforderlich, nämlich, dass Lehrer bei jedem einzelnen Kind individuelle Lernpläne erstellen und Schritt für Schritt vorgehen.
Ein Beispiel aus der freien Arbeit: Fatima lernt Mathematik
Die 9-jähige Fatima ist mit ihren Eltern aus Syrien geflohen. Sie kann kaum ein Wort in deutscher Sprache. Sie scheint eine leistungswillige Schüler in zu sein, die mit Eifer lernt. Nach bedrohlichen Fluchterfahrungen sehnt sich Fatima nach Verlässlichkeit. Sie nimmt Lernangebote an. In ihrer altersgemischten Stammgruppe kann sie sich schnell orientieren und findet Freundinnen, mit denen sie am liebsten immer zusammen wäre.
Jeden Morgen haben wir 2 Stunden freie Arbeitszeit. Der individuelle Lernweg von Fatima bestimmt vom Anfang an das Lerntempo. Erst wenn der »Vorgänger-Stoff« verstanden ist, schreiten wir zum nächsten, darauf aufbauenden »Stoff« fort. Bei uns lernen die Kinder z. B. das »Teilen« von Beginn an. Wir beginnen bei den jüngeren Kindern mit dem Legen von Flächen, dem Ausmalen und Ausschneiden von Kästchenpapier und dem Bestimmen von Flächeninhalten, z. B. einer Fläche mit den Seitenlängen 3 und 8. Diese 24 Kästchen oder Platten lassen sich auch anders legen, z. B. in 6er-Reihen. Daraus erwachsen – in einem individuellen, entwicklungslogischen Spiralcurriculum –normalerweise im 2. und 3. Jahrgang die 1-mal-1-Reihen, die die Kinder bei Flächenberechnungen anschaulich erproben. Fatima ist an alle dem beteiligt, auch wenn sie schon 9 Jahre alt ist. Wie viele Reihen brauchen wir, um 24 Platten in 6er-Reihen zu legen? Die Division ist von Beginn an Thema, sie ist auch für die gerechte Verteilung von Gegenständen unter Kindern bedeutsam: Wenn 10 Stücke Schokolade an 4 Kinder gerecht verteilt werden sollen, sind auch halbe Stücke von Interesse. Wenn Fatima ein Quadrat aus 100 Kästchen entwirft und 8 mal 3 dieser Quadrate legt, wird sie 2400 kleine Kästchen entdecken.
Die schriftlichen Rechenverfahren lernt sie auf der Basis solcher Vorerfahrungen mit Flächenberechnungen. »Reste« bei der Division lassen sich als Brüche ode.r in Dezimalschreibweise darstellerl Für alle älteren Schüler sind die Rückbezüge auf die elementaren mathematischen Grunderfahrungen wichtig. Das gemeinsame Lernen aller in altersgemischten Stammgruppen bietet wertvolle Lerngelegenheiten, weil entsprechende Repräsentanten der verschiedenen Erfahrungsstufen des mathematischen Lernens immer in der eigenen Stammgruppe vertreten sind. Der Lernprozess ist nicht beendet. Am Ende einer Lernphase (sowohl einer Stunde als auch einer Epoche) teilen wir Fatima mit, welche Bausteine sie bereits erreicht hat und welche sie noch bearbeiten wird. Sie entfaltet ihr eigenes Profil. Dieses Vorgehen kann als »Kompetenz- Aufbau-Modell« (vgl. Schlömerkemper 2017, S.197 ff) verglichen werden mit dem stufen artigen Erwerb der Schwimm-Kompetenzen: Nach definierten Prüfkriterien steigt Fatima vom Niveau des »Seepferchen«-Abzeichens über Bronze bis zu Gold auf. »Bestanden« ist definiertes Kriterium. Fatima schreitet im Aufbau ihrer Kompetenz erst fort, wenn sie das darunterliegende Niveau sicher beherrscht. In einer »Klassenarbeit« oder einem »Lerncheck« stellt sie ihre Fähigkeiten unter Beweis. Sie hat damit – wie beim Schwimmabzeichen – ein Plateau erreicht, auf dem wir gemeinsam mit ihr in einer späteren Lernepoche aufbauen. Die Lehrperson gibt hier ein sachbezogenes Feedback (vgl. zur Bedeutung der Feedback-Kultur: Reich2014,280ff.).
Annedore Prengel hebt hier hervor, dass es wichtig ist, »nicht nur nach Lernschritten angemessene Rückmeldung zu geben, sondern zuvor möglichst zu erkennen, was die aktuellen Lernstände sind, was darauf aufbauend die nächsten fachlichen Lernschritte sein könnten und welche fach didaktischen Angebote dafür jetzt gebraucht werden« (Prengel 2016).
Die Lehrperson hat den Lernstand von Fatima ständig im Auge und berücksichtigt ihn bei der Aufgabenstellung. Das Ziel ist, Fatima zu Erfolgen zu verhelfen. Die spiralförmige fachdidaktische Lern-Perspektive ist Anerkennung für das Kind. Fatima kann Kompetenzen thematisch aufbauend in Stufen entfalten und, passend zu ihrem Entwicklungsniveau, ohne Brüche lernen. Wir lösen uns also von den schulstufenspezifischen Organisationsstrukturen. Dazu beteiligen wir auch ältere Schüler – sowohl leistungsstärkere als auch lernschwächere – an dem Lernen mit den jüngeren oder neu einsteigenden Lernern als Helferinnen, »Lehrassistentinnen« oder Patinnen. Unsere Lehrassistentinnen und Lehrassistenten der älteren Jahrgänge durchdringen und begreifen selbst die mathematischen Zusammenhänge gründlicher, indem sie diese mit den jüngeren oder neu einsteigenden zusammen wiederholen, erschließen und ergründen oder ihnen die Sachverhalte vermitteln (vgl. Stähling / Wenders 2015, 115 ff).
Wir fassen zusammen:
Die nachfolgende Lerneinheit setzt an den Vorgängerkompetenzen an und führt sie mit der notwendigen individuellen Zeit weiter. Jedes Kind kann sein »einzigartiges Profil entfalten« (vgl. Schlömerkemper 2017, 193). Die inhaltlich-fachbezogenen Kompetenzen werden Stufe für Stufe aufgebaut, »bis die einzelnen Lernenden das ihnen mögliche Niveau der Kompetenzen erreicht haben. Dabei sollen sie erst dann fortschreiten, wenn ein unteres Niveau sicher beherrscht wird und die zum Weiterlernen erforderlichen Fähigkeiten verfügbar geworden sind« (a. a. 0., 198).
Die Zensuren 5 und 6
Gerhard Sennlaub (1980) hatte in seinem Unterricht die 5en und 6en abgeschafft. Sie sollten nicht einmal gedacht werden (vgl. a. a. 0 ., 101 ff.). Die Motivationsgrundlage z. B. für das freie Schreiben von Texten würde hier völlig zerstört. Mit welchem Recht aber macht das Schulwesen weiter wie früher?
Was erleben wir bei Schulanmeldungen von Viertklässlerinnen und Viertklässlern aus anderen Grundschulen? Sie möchten quereinsteigen in unsere PRIMUS-Schule, die eine Langformschule mit den Jahrgängen 1 bis 10 ist? Manche Kinder haben überhaupt keine Freude mehr am Lernen. Beispielsweise hat ein Junge eine 5 in Mathematik auf dem Zeugnis, ist sehr ernst und kann dann schließlich seine Tränen nicht mehr verbergen. Er ist verzweifelt – gerade, weil es so ungerecht ist, dass er immer weiter auf dem Niveau des Jahrgangs 4 gefordert wird, obgleich die Lehrerin doch genau hätte wissen müssen, dass er das nicht schaffen kann. Andererseits ist es ihm peinlich und er möchte damit nicht auffallen, dass er Aufgaben aus dem Buch des 2. Jahrganges bearbeitet. Die Mitschüler würden ihn dann vielleicht auslachen, befürchtet er. So sitzt er in einer Falle und bittet mit seinen Tränen darum, dass man ihn in Ruhe lasse. Erst als er hört, dass er im 5. Schuljahr nicht noch weiter solchen erniedrigenden Gefühlen des Versagens ausgesetzt sein wird, hellt sich sein Gesicht wieder etwas auf. Könnte es sein, dass Schule tatsächlich die Aufgaben stellen könnte, die er dann auch bewältigen kann? Wir unterliegen zwar dem Zensierzwang, aber: »Dass ein Lehrer Fünfen und Sechsen austeilen müsse, steht nirgends geschrieben « (Sennlaub 1980, 103). Auch vierzig Jahre später hat sich das nicht geändert. Manchmal sind Defizite in Deutsch und Mathematik in der Grundschulzeit entstanden, die jedoch in den so genannten »weiterführenden Schulen« oftmals nicht mehr behoben werden. Diese immer größer werdenden Defizite führen bei vielen Kindern dazu, dass sie sich der Schule versagen, die Aufgaben der Lehrer verweigern, zu spät zum Unterricht erscheinen und schließlich ihm fernbleiben. Am Ende versagen sie sich der Schule ganz.
Zeit | Tagesstruktur in allen Klassen ähnlich | |
7.00–7.45 | Frühstück in der Schule als Angebot | |
7.45–9.30 | Freies Arbeiten | Individuelle Arbeit in den Kernbereichen: Mathe, Deutsch, Englisch. Trainieren , vertiefen |
9.30–10.15 | Pause für alle gleichzeitig, Frühstück | |
10.15–11.00 | Lern-Klassenrat bzw. Klassenrat | Lernklassenrat oder Lerntagebuch: Reflexion über das eigene Lernen, Klassenrat: Problemlösungen |
11.00–13.00 | Projekte Intensivkurse | Projektarbeit in Kleingruppen Kurse in gelenkter Form zur Erweiterung der Grundlagen Regelmäßig Musik, Kunst, Sport, Fremdsprache u. a. |
13.00–14.00 | Mittagessen (teilweise in der eigenen Klasse) und Pause für alle | |
14.00–15.15 | Werkstattt bzw. Lernen in der Stammgruppe | Wahlbereiche Musik, Bewegung, Technik, Natur, Kunst, Gesellschaft, Fremdsprachen Aktivitäten in Klassengemeinschaft: Schwimmen, Wald u. a. |
15.15–15.30 | Tagesabschluss-Runde | Tagesrückblick |
d) Wie kann eine einzelne Schule abhelfen: Primar- und Sekundarstufe zusammen: erfolgreiche Gemeinschafts- oder PRIMUS-Schulen
Für die Kinder im Stadtteil Berg Fidel haben wir unsere Grundschule erweitert und wachsen auf zu einer Schule von 1–10/13. Eine Schule mit PRIMar und Sekundarstufe unter einer Leitung, einer »PRIMUS-Schule« oder – wie es in anderen Bundesländern heißt – »Gemeinschaftsschule«. Wir wollen eine Schule sein, in der alle Kinder und Jugendlichen zusammenbleiben und Erfolge haben. Eine »profilorientierte Lernorganisation« (Schlömerkemper 2017, 207) soll nicht nach Jahrgang 4 abrupt enden, sondern nahtlos weitergehen. In solch einer Schule ohne Brüche gilt es auch, die noch bestehenden tiefen Gräben zwischen der Primar- und der Sekundarstufe zu überwinden.
Die Gemeinschafts-Schulform ist den Schulformen des gegliederten Systems überlegen (vgl. Senatsverwaltung 2016; Maikowski 2018). Sie ist in der Lage, das Schulversagen zu reduzieren. Eine solche »Schule ohne Brüche« ist in NRW als »Schulversuch PRIMUS« genehmigt worden.
Es interessiert uns hier auch, welche »stofflichen Hürden« (Meyerhöfer 2011) die Kinder – in welchem Schuljahr in der Regel – schaffen sollten, um im Fachlichen erfolgreich weiter lernen zu können. Was wird getan, wenn Schüler »zurückliegen« oder »den Anschluss verlieren«? Wie geht man mit den »Lernrückständen« um? Diese Fragen tauchen immer wieder auf. Sie sind nicht auf eine Schulstufe beschränkt. Die Verantwortung für den Lernerfolg jedes Kindes tragen alle Schulstufen und Schulformen.
Literatur
Benölken, Ralf/ Berlinger, Nina/ Hammad, Carolin/ Veber, Marcel: Mathe-Welt. Schülerarbeitsheft ab Klasse 5. Velber: Friedrich 2017
Emer, Wolfgang: Projektdidaktik in der Praxis. Baltmannsweiler: Schneider 2016
Emer, Wolfgang/poetsch, Karlheinz: Arbeiten in Projekten – Wie und wozu? In: Gemeinsam Lernen,4,2018,2,8-13
Häsel-Heide, Uta/ Nührenbörger, Marcus: Grundzüge des inklusiven Mathematikunterrichts. In: Häsel-Heide, Uta/Nührenbörger, Marcus (Hrsg.): Gemeinsam Mathematik lernen – mit allen Kindern rechnen. Frankfurt a.M.: Grundschulverband 2017, 8-21
Liessem, Verena: Zahl der Schulabgänger ohne Schulabschluss steigt wieder. In: CARITAS- Spezial 2017
Lohmann, Joachim: Mit gemeinsamer Oberstufe und tertiärer Bildung für alle die Arbeit sichern und der wachsenden Ungleichheit • trotzen. In: zwd-Politik-Magazin Berlin vom 27.2.2018
Maikowski, Rainer: Entwicklung der Gemeinschaftsschulen in Berlin. In: Müller, Frank J. (Hrsg.): Blick zurück nach vorn – WegbereiterInnen der Inklusion. Bd. 1. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018,171-186
Meyerhöfer, Wolfram: Vom Konstrukt der Rechenschwäche zum Konstrukt der nicht bearbeiteten stofflichen Hürden (nbsH). In: Pädagogische Rundschau 65, 2011, 4, 401–426
Peter, Tobias: Auch Deutschland schwächelt bei PISA. In: Frankfurter Rundschau, 20.3.2018, 28
Prengel, Annedore/ Tellisch, Christin/ Wohne, Anne: Anerkennung im Fachunterricht. In: Pädagogik,68,2016,5,10-13
Rademacher, Hermann: Daten, Fakten und Divergenzen im Übergang Schule-Beruf. In: Bellenberg, Gabriele / Höhmann, Katrin / Röbe,
Edeltraud: Übergänge. Seelze: Friedrich 2011, 116 Reich, Kersten: Inklusive Didaktik. Weinheim: Beltz 2014
Ricking, Heinrich/ Dunkake, Imke: Wenn Schüler die Schule schwänzen oder meiden: Förderziele Anwesenheit und Lernen-Wollen. Baltmannsweiler: Schneider 2017
Rohrmann, Eckhard: Behinderung und Armut. In: Feuser, Georg/Kutscher, Joachim: Entwicklung und Lernen. Stuttgart: Kohlhammer 2013, 152–161
Sack, Lothar: Warum Langformschulen besser sind. Erfahrungen mit einer verheimlichten und unterschätzten Schulstruktur. In: Schnell, Irmtraud: Für uns kommt nur 1–13 in Frage Entwicklungsimpulse aus und für PRIMUS Berg Fidel. Baltmannsweiler: Schneider 2015a, 30-37
Sack, Lothar: Schulqualität und Schulstruktur. Was der Deutsche Schulpreis dazu sagt. In: Gemeinsam Lernen, 1,2015,4, 18–24
Sack, Lothar: Berlin. Schulen des gemeinsamen Lernens 1948 bis heute. In: Gemeinsam Lernen, 2,2016,4,54–58
Schlämerkemper, Järg: Pädagogische Prozesse in antinomischer Deutung. Begriffliche Klärungen und Entwürfe für Lernen und Lehren. Weinheim: Beltz Juventa 2017
Senatsverwaltungfür Bildung, Jugend und Wissenschaft, Berlin: Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule. Berlin 2016
Sennlaub, Gerhard: Spaß beim Schreiben oder Aufsatzerziehung? Stuttgart: Kohlhammer 1980
Sliwka, Anne/Wittek, Doris/Trumpa, Silke: Die Bildungssysteme der erfolgreichsten PISA-Länder – vier Analogien und ein kritisches Resümee. In: Trumpa, Silke / Wittek, Doris / Sliwka, Anne: Die Bildungssysteme der erfolgreichsten PISA-Länder. Münster: Waxmann 2017,163-170
Stähling, Reinhard: Teamarbeit im Ganztagszweig. In Karlheinz Burk. (Hrsg.): Teamarbeit in der Grundschule, Frankfurt/M.: Arbeitskreis Grundschule, 1995,76-81
Stähling, Reinhard: »Du gehörst zu uns« – Inklusive Grundschule. Ein Praxisbuch für den Umbau der Schule. Baltmannsweiler: Schneider 2006
Stähling, Reinhard/ Wenders, Barbara: »Das können wir hier nicht leisten« – Wie Grundschulen doch die Inklusion schaffen können. Ein Praxisbuch zum Umbau des Unterrichts. Baltmannsweiler: Schneider 2012
Stähling, Reinhard/ Wenders, Barbara: Teambuch Inklusion. Ein Praxisbuch für multiprofessionelle Teams. Baltmannsweiler: Schneider 2015
Stähling, Reinhard/ Wenders Barbara: Schule ohne Schulversagen. Praxisimpulse aus der Grundschule und Sekundarstufe für eine gemeinsame Schule. Baltmannsweiler. Schneider 2018