Beanspruchung im Lehrerberuf

Reinhard Stähling
Beanspruchung im Lehrerberuf
Waxmann, Münster/New York/München/Berlin
1998 Intemationale Hochschulschriften
Band 280, 412 S., broschiert, ISBN 3-89325-644-X
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Beanspruchung im Lehrerberuf
Einzelfallfeldstudie und Methodenerprobung

Dieter Wrobel, Iserlohn

Rezension in: Die Deutsche Schule, 91. Jg. 1999, H. 1

Um die Belastung von Lehrem erfassen zu können, muss zunächst ausgemacht werden, welche Kombination von Belastungsfaktoren in diesem Beruf bestimmend ist. Lehrer sind immer stärker auch mit erzieherischen und sozial-integrativen Aufgaben konfrontiert. Es ist bis heute häufig unklar, nach welchen Kriterien der Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe oder die individuelle Belastbarkeit z.B. einer Grundschullehrerin beschrieben werden können. Die vorliegende Arbeit bietet zunächst einen Überblick über die Lehrer-Belastungs-Forschung und erprobt auf dem Weg der Einzelfallanalyse eine Kombination unterschiedlicher Methoden, die über die übliche Feldforschung durch Befragung der Betroffenen hinausgeht. Dabei werden vor allem objektive Indikatoren wie physiologische Variablen oder Verhaltens- und Leistungsparameter durch Messungen, Videoaufzeichnungen und anschließende Video-Recall-Erhebungen analysiert.

Die täglichen Belastungen, denen Lehrerinnen und Lehrer ausgesetzt sind, haben unterschiedliche Ursachen und ebenso diverse Erscheinungsformen. Darüber ist gründlich geforscht und reichlich publiziert worden, aber die präzise Erfassung der Auswirkungen der vielfachen Belastungen ist bislang kaum wissenschaftlich angegangen worden. Ein wesentlicher Grund hierfür ist darin zu sehen, dass neben der Befragung von Lehrenden kaum Methoden vorliegen, mit denen die physischen und psychischen Belastungen tauglich gemessen und auf ihren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang befragt werden können.

Diese Lücke schließt Reinhard Stähling, der einen ebenso aufwendigen wie interessanten methodischen Ansatz entwickelt hat: Für eine Einzelfallstudie hat er ein multimethodisches Arrangement konzipiert und dieses in einem Praxistest erprobt. Kernstück seiner Untersuchung ist eine Kombination aus physiologischen Messungen, Tagebuchaufzeichnungen, Videomitschnitten und Schallaufzeichnungen.

Mit diesen Verfahren wurde eine Woche im Leben einer Grundschullehrerin aufgezeichnet und ausgewertet. Das erscheint zwar als eine schmale empirische Datenbasis, Stählings Ansatz erlaubt aber einen selten präzisen Blick in die Zusammenhänge zwischen dem Geschehen im Klassenraum und den physischen und psychischen Reaktionen seiner Probandin. So konnte Stähling anhand von physiologischen Befunden deutlich herausstellen, wie sich der ganz normale Lehralltag auswirkt. Im Tageslängsschnitt erzeugen unterschiedliche berufliche Standardsituationen Auffälligkeiten, die durch die Korrelation von Meßdaten und subjektiven Belastungsempfindungen der Probandin sichtbar werden.

Stähling zerlegt den Tagesablauf seiner Probandin in kleinste Zeitabschnitte, die er inhaltlich beschreibt und dann mit Messergebnissen zu Herzrate, Atemtiefe, Körpertemperatur und elektrischer Muskelaktivität korreliert. Durch diese unterschiedlichen Messungen werden bereits minimale körperlich-organische Reaktionen sichtbar, die sodann als Verhaltens- und Leistungsparameter zu klassifizieren sind. Weiterhin kann Stähling das Videomaterial und die Tagebuchnotizen seiner Probandin nutzen, um die physiologischen Daten an den realen Ereignissen und deren subjektiver Wahrnehmung durch die Lehrerin zu spiegeln. Auf diese Weise gelangt Stähling schließlich zu einem Beanspruchungsmuster, das die Belastungen seiner Versuchsperson wiedergibt. Trotz des individuellen Zuschnitts werden sich in den Eckdaten dieses Belastungsmusters zahlreiche Lehrende wiederfinden, die täglich ein strukturell vergleichbares Muster durchleben. Das präzise Wissen um die Wirkungen von Alltagsbelastungen ist ein erster Schritt zur bewussten und selbstgesteuerten Vermeidung von körperlicher wie psychischer Erschöpfung. Denn nur wer weiß, wie der Körper auf Belastungssituationen reagiert, kann vorbeugen.

Die Studie erreicht, was sie beabsichtigt: Sie will zur Klärung von blinden Flecken in der Forschung beitragen, in dem sie methodisch exakte Nachweisverfahren zu Belastungsfaktoren entwickelt. Das umfassend abgedruckte statistische Material und die umfangreichen Messdatentabellen werten die Studie wissenschaftlich auf, sie sind für Lesende jedoch von nachrangigem Interesse. Daneben zeigt Stähling detailliert den bisherigen Forschungsstand zur Belastung von Lehrenden auf. Bei aller Datenfülle verliert Stähling den Lehralltag nicht aus dem Blick; und er weiß, wovon er spricht: Er arbeitet seit 16 Jahren als Lehrer an einer Ganztagsgrundschule in Münster.


Auszug aus Stähling, Reinhard (1998). Beanspruchungen im Lehrerberuf (23–29). Münster: Waxmann

1.3 Beanspruchungs-Prozess in Abhängigkeit vom (Un-) Aufmerksamkeitsniveau der Grundschulklasse
1.3.1 Verringerung der Effizienz der Handlungsregulation

Nach dem Überblick über Ansätze zur Belastungsanalyse im Lehrerberuf und der Darstellung der Begriffe, versuchen wir aufbauend auf diesen Grundlagen, einen Modellansatz für den Beanspruchungsprozess von Grundschullehrern zu entwerfen. Die Regulation des Handelns umfasst nach Hacker (1986) die Zielbildung, den Entwurf von Handlungsplänen, die Ausführung und Kontrolle von Handlungsplänen. Bei Lehrern ist das gesamte didaktische Handeln angesprochen. Wir beschränken uns bei der Darstellung des Beanspruchungsprozesses auf das Handeln im Unterricht. Der Lehrer – selber Teil des Systems „Unterricht“ – beeinflusst den Unterrichtsprozess, aber er determiniert ihn nicht. Sein Unterrichtshandeln lässt sich – nach Bromme (1992, 75ff) – analytisch in drei Bereiche unterteilen: (A) Klassenführung (Organisation und Aufrechterhaltung von Schüleraktivitäten) zur Herstellung einer sozialen Struktur, die durch ein kontinuierliches System von Signalen zur Verhaltenserwartung (vgl. Kounin, 1976) und die gemeinsame Etablierung von Regeln (Doyle, 1986) beschrieben wird.
(B) Vermittlung des Unterrichtsinhalts zur Herstellung einer inhaltlichen Struktur, die durch Anregung von Eigenaktivität und eine den Schülern angepasste Darbietung gekennzeichnet ist (vgl. Bromme, 1992, 77ff).
(C) Zeitorganisation zur Herstellung einer zeitlichen Struktur, die sowohl durch den Ablauf des Schuljahrs, die zeitlichen Vorgaben des Lehrplans als auch durch die Rhythmisierung von Ereignissequenzen und das rasche Reagieren zur Aufrechterhaltung von Schüleraufmerksamkeit charakterisiert werden (vgl. Bromme, 1992, 80ff; Wahl et al., 1983).

Wir versuchen, den Prozess zu beschreiben, der dazu führt, dass Lehrer in ihrer Handlungsregulation beeinträchtigt sind. Dabei greifen wir auf das „Imbalance-Modell“ zurück, das Stress als Ungleichgewichtszustand definiert und die Verringerung der Effizienz der Handlungsregulation als eine kurzfristige, überzufällige Stressreaktion beschreibt (vgl. Udris, 1981; Greif, 1983; Semmer, 1994; Dunckel, 1985 & 1991; Greif, 1991). Schönpflug (1979) schreibt der ineffektiven Selbstregulation („Fehlregulation“) einen großen Einfluss auf die Entstehung von Stresszuständen zu. Dieses Modell soll auf den Unterrichtsprozess bezogen werden.

1.3.2 Aufmerksamkeit in der Grundschulklasse

Aus der Vielzahl der Belastungen (vgl. Kapitel 2) soll die Unaufmerksamkeit in der Grundschulklasse genauer betrachtet werden, da dieses Phänomen sowohl von der in unserer Einzelfallanalyse untersuchten Lehrerin selber als auch von erfahrenen Unterrichtsbeobachtern hervorgehoben wurde. Diese Ausschnittsbetrachtung eines komplexen Phänomens trägt zu einer Teilanalyse bei, kann aber nicht den Anspruch erheben, ein Modell für die Lehrerbelastung insgesamt zu sein.
Zum Thema „Schüleraufmerksamkeit“ sind zwei Forschungsstränge zu unterscheiden:
a) Das Interesse an individuellem (un)aufmerksamen Schülerverhalten (vgl. Wagner, 1996).
b) Das Interesse an der durch „classroom management“ beeinflußten „aktiven Lernzeit“ oder am aufgabenbezogenen Schülerverhalten, das mit den Begriffen „on-task“ bzw. „off-task“, „engaged“ bzw. „non-engaged“oder„attentive“ bzw. „inattentive“ eingestuft wird (vgl. Anderson, 1984a).
Die empirische Längsschnitt-Studie in 52 Grundschulklassen mit 104 Lehrern ( Lehrerwechsel nach Klasse 2) von Helmke & Renkl (1993) zeigt, dass das Aufmerksamkeitsniveau von Grundschulklassen (n=1213 Schüler aus städtischen und ländlichen Schulen in Bayern) trotz unterschiedlichen Kontextbedingungen entscheidend von der Handlungsregulation des Lehrers bestimmt wird. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Längsschnittuntersuchung in den Jahrgangsstufen 5 und 6 in 39 Hauptschulklassen (vgl. Helmke & Schrader, 1993). Kontextvariablen haben eine untergeordnete Bedeutung für das Aufmerksamkeitsniveau einer Schulklasse (vgl. Helmke & Renkl, 1993). Zwei Regulationsmerkmale beeinflussen in der Grundschulklasse am meisten die Aufmerksamkeit der Schüler: Die wirksame Klassenführung und die adaptive Unterrichtsgestaltung.

Nach Helmke & Renkl (1993) lässt sich eine wirksame Klassenführung durch folgende Merkmale einschätzen:

  1. „Vorliegen eines effizienten Regelsystems,
  2. wirksame Unterrichtsorganisation (z.B. kurze, reibungslose Übergänge, Bereitstellung von Material, Vermeidung unnötiger Pausen),
  3. Störungskontrolle (Störungen werden, wenn sie vorkommen, mit minimalem Aufwand und unverzüglich unterbunden),
  4. Zeitnutzung (intensive Nutzung der Unterrichtszeit für fachliche Zwecke, keine Exkurse, Auslagerung administrativer und prozeduraler Aktivitäten).“ (191)

Bei Preece (1977) wird in einem Modell zur Lehrerangst die tatsächliche Unruhe oder Disziplinlosigkeit von Schülern in Zusammenhang gebracht mit der Wahrnehmung der Unruhe durch den Lehrer. Ein ängstlicher Lehrer schwankt nach diesem Modell zwischen Über- und Unterschätzung der Unruhe in der Schulklasse. Ein solcher Lehrer wird trotz einer sich vermindernden Unruhe oder Unaufmerksamkeit begonnene Sanktionen weiter fortsetzen, weil er die Unruhe überschätzt. Die Wahrnehmung der Unruhe kippt bei weiter fallendem Unruhepegel plötzlich von einer Überschätzung zu einer Unterschätzung: Die tatsächliche Unruhe wird vom ängstlichen Lehrer als harmlos unterschätzt, so dass nach diesem Punkt des Umkippens in der Wahrnehmung trotz anwachsenden Unruhepegels nicht eingegriffen wird.
Gründe für mangelnde Klassenführung in der Klasse können in der Lehrerpersönlichkeit, in der sozialen Wahrnehmungsfähigkeit, in dem Aus- und Fortbildungsweg des Lehrers, eventuell auch in der oppositionellen Einflussnahme von Schülereltern u.a. zu finden sein.

Adaptivität ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

  1. „Individualisierung (Einsatz unterschiedlicher Maßnahmen der kurzzeitigen inneren Differenzierung; Variation der Art und Schwierigkeit von Fragen in Abhängigkeit von individuellen Eingangsbedingungen),
  2. Förderungsorientierung (ausgeprägte Stützung und Förderung insbesondere leistungsschwächerer Schüler, z.B. in Form von Tipps, Hilfen, speziellen Aufgaben),
  3. diskrete individuelle Kontakte in der Stillarbeit zur Vermeidung von Bloßstellung und
  4. Schülerzentriertheit (Gewährung eines relativ großen Selbständigkeitsspielraums).“ (Helmke & Renkl, 1993,192)

Das wichtigste Regulationsmerkmal im Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsrate ist die Effizienz der Klassenführung. Die Bedeutung dieses Faktors nimmt im Verlauf der 4-jährigen Grundschulzeit noch zu. Die Forschungen zu dieser Determinante wurden seit Kounin (1970) vorwiegend in den USA durchgeführt (vgl. Doyle,1986; Stevenson, 1987; Evertson, 1989; Karweit, 1989; für den deutschen Sprachraum siehe Rheinberg & Hoss, 1979).
Das zweite entscheidende Regulationsmerkmal für die Aufmerksamkeitsrate im Unterricht ist die adaptive Unterrichtsgestaltung. Die Bedeutung dieses Faktors nimmt jedoch im Verlauf der Grundschulzeit ab und ist im 4. Schuljahr nicht nachzuweisen (vgl. Helmke & Renkl, 1993). Einflüsse der Qualität des Unterrichts auf das Aufmerksamkeitsverhalten der Schulklasse wurden von Stallings (1975), Piontkowski & Calfee (1979), Fisher et al. (1980), Anderson (1984 a,b) untersucht.
Ungünstige Kontextbedingungen wie Klassengröße (vgl. Cooper, 1989; Slavin, 1989; Dollase, 1995) oder Geschlechtszusammensetzung (vgl. Rheinberg & Hoss,1979; Fennema & Peterson, 1987) schränken den Handlungsspielraum des Lehrers ein, bedeuten auch erhebliche Mehrbelastungen und erfordern zur Herstellung oder zum Erhalt der inneren Balance zusätzliche psychohygienische Maßnahmen (vgl. Kapitel 12). Jedoch muss angenommen werden, dass der entscheidende Einfluss auf das Aufmerksamkeitsniveau der Schulklasse in den genannten methodischen Qualitäten liegt (vgl. Helmke & Renkl, 1993). Klassenkontextfaktoren werden hier nicht vernachlässigt, obwohl zu vermuten ist, dass ihre Bedeutung überschätzt wird. Der Einfluss einiger Risikofaktoren auf das Aufmerksamkeitsniveau wurde untersucht und ergab folgende Auffälligkeiten:

  1. Die sprachliche Zusammensetzung der Klasse. Bei einem hohen Anteil an Schülern, die Deutsch als Fremdsprache haben, ist das durchschnittliche Aufmerksamkeitsniveau geringer als in einer Klasse mit geringem Anteil (vgl. Helmke & Renkl, 1993). Die Bedeutung dieser Determinante schwächt sich aber schon in der 3. Klasse ab (r = .33) und ist in der 4. Klasse nicht mehr signifikant.
  2. Das Sozialklima spielt in diesem Zusammenhang lediglich in der 3. Klasse eine Rolle, ist aber im Vergleich zu den Faktoren Klassenführung (r= .67) und Adaptivität (r= .40) mit einer Korrelation von r = .29 im 3. Schuljahr von geringerer Bedeutung für das Aufmerksamkeitsniveau (vgl. Helmke & Renkl, 1993)

Die Unaufmerksamkeit und die damit verbundene Geräuschkulisse in Schulklassen erleben viele Lehrer als Belastung (vgl. Hanke, Huber & Mandl, 1984; Veenmann, 1984; Wulk, 1988; Solman & Feld, 1989; Grimm, 1993). Lärmwirkungen bei Tätigkeiten mit komplexer Informationsverarbeitung wurden von Schönpflug & Schulz (1979) dargestellt. In diesem Zusammenhang weisen einige Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung zu sozialen Lärmwirkungen auf den Einfluss hin, den Lärm für die sozialen Beziehungen hat (vgl. Guski,1987). Hier sind folgende Einflussgrößen auf das Lehrerverhalten interessant:
a) Kommunikationserschwerung: Die Kommunikation wird auf das Notwendigste beschränkt, die Rede wirkt abgehackt und verkürzt.
b) Veränderung der Urteile über andere Menschen: Die lärmgestörte Kommunikation führt zu impulsiven Urteilen und Vernachlässigung einiger Informationen.
c) Nachlassen von Hilfeverhalten.(Vgl. a.a.O., 76ff).
(Zur Literaturübersicht zum Schall, siehe Kapitel 2.2 und 2.3).

1.3.3 Modell einer Aufschaukelung im Beanspruchungsprozess

Die Beanspruchung des Lehrers entwickelt sich teilweise im Verlauf eines Unterrichtsvormittags in Form einer Aufschaukelung. So besteht folgende Vermutung:

Je größer die Lehrer-Stressreaktion „Verringerung der Effizienz der Handlungsregulation“ ausfällt, um so größer werden die Stressoren „Unaufmerksamkeitsniveau der Schulklasse“ und folglich meist auch der „Lautstärkepegel in der Schulklasse“.
Oder kurz formuliert: Je schwächer die Handlungsregulation des Lehrers (Klassenführung und Adaptivität nicht effizient), um so größer werden in der Folge davon die Stressoren Unaufmerksamkeit der Schüler und der Lautstärkepegel.
Es entsteht – in Anlehnung an Schönpflug (1985) – ein Aufschaukelungsprozess (Abbildung 1.3.1) mit reziprokem Kausaleffekt, der die Belastungen der sich belastet fühlenden Lehrer noch vergrößert. Ineffizienz ist Folge und zugleich Ursache von Stress.

Vorausgesetzt wird in unserem kybernetischen Modell, dass ein Lehrer in seiner Handlungsregulation nicht effizient ist, d.h. die Unaufmerksamkeit der Schüler nicht durch methodische Eingriffe beheben kann.
Auch das oben beschriebene Modell zur Unruhe-Wahrnehmung des ängstlichen Lehrers (vgl. Preece, 1977) stellt einen Aufschaukelungsprozess dar: Dem ängstlichen Lehrer gelingt es nicht, die Unruhe angemessen einzuschätzen; das wiederum führt zu Ineffektivität in der Behebung von Störungen. Die vorhandenen Unsicherheiten beim Lehrer vergrößern sich. Nach Schulz (1979) gelingt ängstlichen Personen schlechter die optimale Anpassung von eigenen Leistungskapazitäten an die Anforderungen.
Spanhel & Hüber (1995,202) beschreiben auf systemtheoretischer Basis, wie beim Auftreten einer Störung im Lernkontext ein latenter oder dauernder negativer Faktor im System (z.B. Verringerung der Effizienz der Handlungsregulation beim Lehrer) genügt, um Regelkreise in eine negative Richtung zu lenken. Es besteht dabei die Gefahr, dass sich auf Seiten der Schüler und des Lehrers eine negative Lernstruktur (mit entsprechender Motivationslage und Misserfolgserwartung) stabilisiert. Beim Entstehen solcher „Teufelskreise“ (vgl. Betz & Beuninger,1987) spielen negative bzw. enttäuschte Erwartungen eine Rolle. Es kommt zu Unterrichtssituationen in einem „negativen Lernklima” (vgl. zum „Klima“-Begriff: Kapitel 3.5).
Der subjektiver Bewertungsprozess (vgl Lazarus & Launier, 1981) kann zur Aufschaukelung beitragen, er spielt vermutlich in allen Aufschaukelungseffekten eine (unterschiedlich ausgeprägte) Rolle. Sehr deutlich wird dies an dem Beispiel, wenn unerwünschte Außengeräusche auf Lehrer und Schüler wirken, und der Lehrer die Unaufmerksamkeit der Schüler als Ergebnis seiner eigenen methodisch-didaktischer Fehlregulation (fehl)deutet. Etwa im Sinne von: „Ich bekomme die Klasse nicht in den Griff – bin ich ein schlechter Lehrer? Ich zweifle an meiner Kompetenz. – Das wiederum macht mir Stress“. Die Abbildung 1.3.1 stellt das vom Autor entwickelte Modell der Aufschaukelung im Beanspruchungsprozess dar. Es basiert auf einer Regelkreis-Vorstellung, die die Beanspruchungsreaktionen des Lehrers (nach Greif, 1991) und die Regulationsmerkmale für Aufmerksamkeit der Schulklasse (nach Helmke & Renkl, 1993) in Zusammenhang bringt mit den Belastungsfaktoren „Unaufmerksamkeit “ und „gesteigerte Läutstärke“. Das Modell zeigt, wie beim Auftreten eines Stressors (z.B. Lärm) bereits eine verringerte Effizienz der Handlungsregulation des Lehrers genügt, um einen negativen Prozess (Aufschaukelung) in Gang zu setzen.

Abbildung 1.3.1: Aufschaukelungsmodell der Unterrichtsbeanspruchung

Ein physiologisch orientiertes Modell könnte – parallel betrachtet – den beschriebenen zyklischen Prozess verdeutlichen. Dafür sind Untersuchungen von Interesse, die die Leistungskurve (Effizienz der Handlungsregulation) in Abhängigkeit vom physiologisch messbaren Erregungsniveau darstellen (vgl. Anreassi, 1980, 335ff; Grings & Dawson, 1978, 87–104; Mandler, 1979, 163–167). Die entsprechende Vermutung lautet: Je mehr die untersuchte Lehrerin den Stressoren Lautstärke und Unaufmerksamkeit der Schulklasse ausgesetzt ist, um so mehr steigt ihr Erregungsniveau. Ihre Effizienz der Handlungsregulation oder ihre Leistungsfähigkeit (erfasst in der Selbsteinschätzung, durch Lautstärkemessung im Zusammenhang mit Aufmerksamkeitsbeobachtung) sinkt, sobald sich ihr Erregungsniveau (gemessen durch die physiologischen Aktivierungsindikatoren) über ein mittleres Maß hinaus auf einen Extrembereich zu bewegt.
Nach diesem physiologisch orientierten Modell liegt das Leistungsoptimum bei einem mittleren Erregungsniveau; niedrige oder sehr hohe Erregungspegel senken die Leistung und somit die Effizienz der Handlungsregulation (umgekehrt u-förmige Relation). Bei Erregungsniveaus in mittleren Lagen können jedoch lineare Beziehungen zwischen Leistung und Aktiviertheit gefunden werden, wobei das Leistungsoptimum wahrscheinlich zwischen verschiedenen Aufgabentypen variert (vgl. Schandry, 1989,51,58f).
Hierbei ist noch unklar,
a) wann der Zeitpunkt des mittleren und des extremen Erregungsniveaus erreicht ist und
b) welche Auswirkungen die Schüler-Pausen zwischen den Unterrichtsstunden haben (vgl. die Überlegungen zur Superposition der Belastung im Kapitel 1.1),
c) wie die Leistung (oder Effizienz der Handlungsregulation) bestimmt werden soll.
Die möglicherweise Stress erzeugenden Unterrichtsprozesse sind nach dem „Imbalance-Modell“ so zu verstehen: Die Arbeitsaufgabe stellt bestimmte Regulationsanforderungen an die Lehrerin. Die Probandin muss sich nun mit den Regulationshindernissen (z. B. Störungen durch verhaltensauffällige Schüler oder Probleme von leistungsschwächeren Schülern ) im Zusammenhang mit ihren Ressourcen (Handlungsspielraum unter Berücksichtigung von curricularen Vorgaben, gesellschaftlichen und eigenen Ansprüchen) auseinandersetzen. Dabei entscheidet die Einschätzung der Lehrerin selber. (vgl. dazu Udris, 1981; Greif, 1983; Semmer, 1984; Dunckel, 1985 & 1991).


Auszug aus 
Stähling, Reinhard (1998). Beanspruchungen im Lehrerberuf (81–94).
Münster: Waxmann

3.1 „Ummauerte Scheinwelt“ und „Vorführstunden“
3.1.1 Feldforschung im Lehreralltag

erstes Hindernis für die Datenerhebung bei Lehrern im Feld bildet die in Deutschland zum Schutz der Persönlichkeitsdaten von Schülern eng ausgelegten Vorschriften für empirische Untersuchungen in Schulen. Der entsprechende Runderlass des Kultusministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 17. 2. 1977 regelt die Genehmigung von empirischen Untersuchungen und Befragungen mit dem Hinweis auf das Elternrecht und den Persönlichkeitsschutz:
„Ein Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung besteht nicht. Die Genehmigungsbehörde entscheidet in freiem Ermessen, ob eine Genehmigung erteilt werden kann.“ (a.a.O.,2.5.)
Schulbezogene Längsschnittstudien weisen in vielen Fällen eine Organisationsstruktur auf, die eher durch praktische Zwänge als durch theoretische Erwägungen geprägt ist (vgl. Schneider & Edelstein, 1990). Anpassung an Ferienordnungen, Wünsche der Schulleitungen, Organisationsaufwand und andere forschungsfremde Faktoren bestimmen dabei häufig die Planung von Messzeitpunkten und Stichprobenstruktur (Schneider,1991,60).
Ein Beispiel für diese Probleme stellt die Burnout-Studie von Barth (1990) mit Grund- und Hauptschullehrern in Mittelfranken dar. Nur Lehrer an Schulen mit Schulleitern, die dem Thema gegenüber aufgeschlossen waren, bekamen die Genehmigung, an der Untersuchung teilzunehmen. Die Stichprobenrekrutierung erfolgte über die Schulleiter und konnte keiner theoretischen Überlegung folgen. Auf diese Weise konnte in dieser Studie die Rolle der Schulleiter im Burnout-Prozess nicht valide erfasst werden (vgl. Barth, 1990, 250). Eine weitere messmethodische Schwierigkeit ist die Festlegung des Zeitpunkts zur Datenerhebung, da Lehrer in bestimmten arbeitsintensiven Zeiträumen (vor den Ferien, während des Zeugnisschreibens usw.) kaum zur Mitarbeit bereit sind. So füllten die Lehrer in der Barth-Studie Fragebögen nach eigenem Ermessen in den Schulferien oder in der Schulzeit (unter völlig unterschiedlichen Bedingungen) aus (vgl. Barth, 1990, 306).
Studien zur Beanspruchung von Lehrern im Berufsalltag sind nicht selten durchgeführt worden (vgl. Rudow, 1994). Die Grundlage der meisten empirischen Untersuchungen bilden die subjektiven Aussagen von Lehrern. Die häufigste methodische Herangehensweise ist die Befragung (z. B. Wulk, 1988 & Barth, 1990). Selten werden auch psychophysiologische Messungen im Feld vorgenommen. Dabei stehen allerdings zuweilen wegen der besseren Auswertbarkeit Designs im Vordergrund, die den Schulalltag nicht annähernd genau widerspiegeln können.
Die Erfahrung in der Lehrerforschung zeigt, dass selten eine hinreichend große Zahl von berufserfahrenen Lehrern gefunden werden kann, die bereit sind, die Belastung eines Untersuchungsdesigns auf sich zu nehmen, das mit physiologischen oder biochemischen Messungen im Schulalltag arbeitet. Wie Tabelle 3.1.1 zeigt, ist die Gesamtzahl der so untersuchten Lehrer gering (n=361).

Tabelle 3.1.1: Psychophysiologische und biochemische Studien zur Lehrerbelastung im Schulalltag

VerfasserJahrZahl der 
untersuchten Lehrer
Physiologische und biochemische Indikatoren
Scheuch et al.197841Herzrate, Blutdruck
Bönner & Walenzik19827Herzrate
Ursin et al.198440Immunglobuline
Mäkinen & Kinnunen1986, 1988187Katecholamine
Knothe et al.199186Herzrate, Blutdruck

Diese wenigen empirische Untersuchungen lassen nach Rudow (1994) keinen Schluss auf den objektiven Berufsstress von Lehrern zu.
Eine mindestens so große Abwehrhaltung besteht gegenüber Felderhebungen mit audio-visuellen Aufzeichnungsgeräten. Hier wird m.E. zu Recht befürchtet, dass die Anonymität der Beteiligten nicht immer gesichert bleiben könnte. So wird kaum ein Lehrer leicht seine Zustimmung dazu geben, dass z.B. ein Video-Mitschnitt aus seinem Berufsalltag jedem Mitarbeiter eines psychologischen Forschungsprojektes zur Verfügung steht; dies gilt um so mehr, je mehr der Video-Mitschnitt Unterrichtsausschnitte zeigt, die seine didaktischen und methodischen Qualifikationen in Frage stellen.

Auch Erhebungsverfahren mit Beobachtern im Klassenraum werden erschwert. So konnte bei der Untersuchung von Helmke & Renkle (1993, 192) das aus methodischer Sicht wünschenswerte Verfahren einer zufälligen Rotation der Beobachter (bei mehreren Unterrichtsbesuchen) nicht realisiert werden, weil die beobachteten Lehrer sich dagegen ausgesprochen hatten. Die Lehrer ließen immer nur dieselbe Person als Beobachter in ihren Klassenraum, weil sie befürchteten, dass in ihrer Klasse durch Beobachterwechsel zu viel Unruhe entstehe.

Das bisher aufgezeigte Repertoir an Abwehr, das Schulen aufbieten können, um Forschung über das System Schule nicht zu fördern, ließe sich vielleicht noch heute in dem Satz von Adorno (1965) zusammenfassen: „Schule hat die immanente Tendenz, sich abzudichten“ (a.a.O., 496). Das Bestreben der Lehrer bestehe darin, den „Mikrokosmos“ und die „ummauerte Scheinwelt “ zu erhalten (vgl. a.a.O., 493). Die Frage, welche Kosten dem Steuerzahler durch diese Ummauerung entstehen (vgl. fehlende Arbeitsplatzbeschreibungen und Kriterien für Bewerber-Auswahl) und wie viele Bürger an suboptimalen Ausbildungsbedingungen leiden (vgl. z. B. die Zahl der Analphabeten), können Volkswirtschaftler kaum berechnen

3.1.2 Vorführstundeneffekte und Expertenhandeln

Ein bemerkenswertes wissenschaftstheoretisches Paradoxon taucht auf: Forschung über den Lehrerberuf, soweit sie sich auf Unterrichtsbeobachtungen oder Unterrichtsaufzeichnungen bezieht, hat in der Regel nicht das Alltagsverhalten im Unterricht zum Gegenstand der Betrachtung, sondern analysiert ein Artefakt. Dieses Artefakt wird in Lehrerkreisen herablassend und wohl wissend um den besonderen Arbeitsaufwand dafür als „Vorführstunden zeigen“ disqualifiziert. Meyer (1980) bezeichnet die gängigen didaktischen Konzepte der Unterrichtsvorbereitung als „Feiertagsdidaktiken“. Der Anspruch dieser didaktischen Ansätze wird jedoch sowohl in der Lehrerausbildung als auch in der Schulaufsicht weiterhin eingefordert (vgl. Jank & Meyer, 1994). Das führt zu der Fähigkeit der Lehrer, sich für „Vorführstunden“ speziell und anders vorzubereiten als für den Alltagsunterricht. Dieser Störeffekt wirkt sich auch auf Unterrichtsbeobachtungen oder -aufzeichnungen im Rahmen von Forschung aus.
Ein interessantes Beispiel für ein Forschungsprojekt, das sich mit der Analyse von „Vorführstunden“ von Nicht-Experten beschäftigt, ohne dies jedoch ausdrücklich hervorzuheben, ist folgendes: Sperka & Kittler (1995) untersuchten 16 Lehramtsstudenten, die im Rahmen eines Praktikums ihre erste (!) Unterrichtsstunde hielten. Sie stellen nach Herzfrequenzmessungen und Situationsanalyse ihre Ergebnisse in einen Zusammenhang mit der These, dass Unterricht allgemein als laufender Stressbewältigungsprozess verstanden werden kann.
Ein anderes Beispiel für vorschnelle Verallgemeinerungen, die aus der Untersuchung von „Vorführstunden“ hergeleitet werden, ist das deskriptiv-phänomenologische Unterrichts-for-schungsvorhaben von Vierlinger (1990): Dort wurden 12 Unterrichtsstunden, die 4 (der Klasse teilweise fremde ! ) Lehrer in einer 2. Klasse gehalten haben, von im Klassenraum sitzenden Studenten (des Lehramts für das Gymnasium! ) mitprotokolliert. Einer der Lehrer (Berufsanfänger) war der Klassenlehrer. Dieser gab die Unterrichtsthemen vor. Ein anderer Lehrer galt als sehr berufserfahren (Experten); 2 Lehrende befanden sich in der Ausbildung. Zu den Untersuchungsergebnissen zählt die deskriptive Analyse des Zusammenhangs von Aufmerksamkeitsniveau in der Schulklasse und Lehrerverhalten. Ein solcher Untersuchungsansatz muss von der Grundannahme ausgehen, dass das Schülerverhalten (besonders die Aufmerksamkeit) in verschiedenen (experimentellen) „feiertagsdidaktischen“ Einzelstunden (für die Fragestellung bedeutsame) lehrer-abhängige Veränderungen aufweist. Andere Erfahrungen machten Langthaler & Schneider (1986) (allerdings mit der Video-Unterrichtsbeobachtung): Experten konnten nicht einmal die Identität des Lehrers erkennen, wenn ihnen aus einer Einzelstunde unterschiedliche Kamera-Inhalte (mit Original-Ton) präsentiert wurden. Vierlinger (1990) bezeichnet seine Untersuchungsergebnisse als valide und versucht eine vermeintliche Nähe zum Schulalltag dadurch zu begründen, dass auch dort Lehrerwechsel (z.B. bei Vertretungsstunden) und Beobachter (z.B. Schulrat) „im weiteren Sinne zur normalen Gegebenheit der Schule“ gehörten (vgl. a.a.O., 83ff).
Solche Untersuchungen haben eine geringe Relevanz für die Lehrerforschung, weil eine Vergleichbarkeit von „Vorführstunden“ mit Unterrichtsalltag oder von erfahrenen Lehrern (Experten) mit Lehramtsstudenten/ Berufsanfängern nicht nachgewiesen wird.
Ergebnisse der Expertenforschung (vgl. Bromme, 1992,121ff) zeigen, dass erfahrene Lehrer Unterrichtssituationen relativ schnell beurteilen und zur Aufrechterhaltung von Schüleraktivitäten rasch reagieren können. Die forschungsmethodische Schwierigkeit besteht in der bei Experten festgestellten Diskrepanz zwischen hoher Handlungskompetenz mit entsprechendem Interaktionstempo und geringem bewusstem Bezug zwischen Handlung und Expertenwissen (vgl. Berry & Broadbent, 1984; Dreyfus & Dreyfus, 1987). Bei erfahrenen Lehrern wurden (erfasst durch Video-Recall-Verfahren) nur etwa alle zwei Minuten (vgl. Clark & Peterson, 1986) bzw. alle 1,4 Minuten (vgl. Schreckling, 1985, 215) bewusste Abwägungen von Handlungsalternativen im Alltagsunterricht festgestellt. Beim Video-Recall-Verfahren zeigte sich, dass nachträglich zusätzliche Kognitionen geäußert wurden, die in der alltäglichen Unterrichtssituation vermutlich nicht bewusst waren (vgl. Wahl et al., 1983; Yinger, 1986).
Mutzeck (1992) zeigt, dass die Verwirklichung von didaktischen Handlungsabsichten, die in Lehrertrainings entstanden, anscheinend nur nach Überwindung verschiedener transferhemmender Faktoren gelingt. Was ein Lehrer langfristig bewirken will, ist für ihn im Berufsalltag nur teilweise handlungsleitend, da „Subjektive Theorien“ (in unterschiedlichem Ausmaß) durch Transferhemmnisse beeinflussbar sind. Es gibt transferhemmende Faktoren, die der Umsetzung solcher bewussten oder teilbewussten „Subjektiven Theorien“ im Wege stehen: Mutzeck (1992) fand bei Lehrern (n=21) mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden, dass besonders intrapersonale Faktoren (z.B. psychisches Befinden) Handlungsabsichten und deren Umsetzung im Berufsalltag bestimmen. Die Bedeutung der Lehreremotionen für die Kommunikation, die Instruktionstätigkeit und Schülermotivation ist wahrscheinlich relativ groß (vgl. Rheinberg & Minsel, 1993, 345ff). Dagegen scheint der handlungsleitende Status „pädagogischer Gedanken“ (die in entspannten Gesprächssituationen vom Lehrer geäußert wurden) in Störsituationen im Unterricht gering zu sein; im leistungsthematischen Kontext scheinen solche Kognitionen einen größeren Einfluss auf das Unterrichtsverhalten von Lehrern auszuüben (vgl. Wahl, 1979; Wahl et al., 1983). Die Erfassung Subjektiver Theorien mit Hilfe qualitativer Inhaltsanalyse scheint besonders geeignet, die bildungstheoretischen Kognitionen und die damit verbundenen Emotionen und Handlungsabsichten von Lehrern zu bestimmen. Jedoch ist kritisch zu prüfen, ob bei entsprechenden Untersuchungen „Vorführstundeneffekte“ entstehen könnten: Gerade in „vorführ-ähnlichen“ Situationen werden erfahrene Lehrer die im Alltag offenbar einflussreichen Transferhemmnisse aus dem Wege zu räumen versuchen. So werden in der „Vorführstunde“ wahrscheinlich didaktische Handlungsabsichten in größerem Maße einen handlungsleitenden Status erhalten, als ihnen möglicherweise im Alltag zukommt.
Zur Entstehungsgeschichte von (möglicherweise in der Lehrerausbildung internalisierten oder persönlichkeitsbedingten) Lehrerverhaltensroutinen, die dem betreffenden Lehrer selber völlig unbekannt sind, liegen bisher keine Untersuchungen vor (vgl. Rheinberg & Minsel, 1993,341).
Ein weiterer Faktor professioneller Lehrerarbeit ist das so genannte „Klima“ der Schule. Die Schulwirkungsforschung seit den 70er-Jahren belegt den bedeutenden Einfluss der Lern-, Erziehungs-, und Organisationskultur der einzelnen Schule (als Handlungseinheit) und führt zur normativen Unterscheidung von „guten“ und „schlechten“ Schulen (vgl. Fend, 1986; Rolff, 1993).
Der Begriff „Lernkultur“ beschreibt Handlungskonzepte und Lernmöglichkeiten einer einzelnen Schule (vgl. Holtappels, 1995, 13). Lehrende und Lernende entwickeln bei der Verfolgung pädagogischer Werte gemeinsam „Muster der Wahrnehmung und der Überzeugungen“, die als „unterrichtliche Lernkultur“ bezeichnet werden (vgl. Bauer, 1995,116; Holtappels, 1995,16ff). Effektive Lernkultur bezieht sich auch auf die didaktisch-methodische Qualität der Lehr-Lernprozesse. Sie ist nach Helmke & Renkl (1993) u.a. abhängig von der Effektivität der Klassenführung und Adaptivität (vgl. Kapitel 1.3). Unterricht unter den Bedingungen eines negativen Klassenklimas belastet die Beteiligten (vgl. Spanhel & Hüber, 1995,204ff).
Der Begriff „Erziehungskultur“ bezeichnet das Sozialklima einer einzelnen Schule (vgl. Rutter, 1980).
„Organisationskultur“ beschreibt organisatorische Strukturen, das Organisationsklima und die Organisationsentwicklungen einer Schule (vgl. Holtappels, 1995).
Diese drei unter dem Begriff „Schulkultur“ zusammengefassten Dimensionen der Handlungsregulation von Schulmitgliedern verdeutlichen die vielfältigen Interaktionen zwischen didaktischen Kognitionen einzelner Lehrer und Profilen der einzelnen Schule. Hier deuten sich methodische Probleme bei der Erfassung von Belastungsdynamiken an. Wie wird sich ein komplexes System einer einzelnen Schule unter Beobachtung von Wissenschaftlern (verändert) darstellen?

Die nahe liegenden Fehldeutungen, die sich aus der Untersuchung von Unterricht anhand der Analyse von „Vorführstunden” ergeben, die teilweise von Nicht-Experten gehalten werden, entsprechen dem theoretischen und alltagsfremden („feiertagsdidaktischem“) Anspruch, der auch heute noch gebräuchlichen didaktischen Konzepte:
Es wird ungeprüft aus „Vorführstunden“-Analysen generalisiert, dass

– für die Unterrichtsvorbereitung im Alltag beliebig viel Zeit zur Verfügung steht,
– der Lehrer hoch motiviert ist,
– der Lehrer über eine hohe theoretische und praktische Handlungskompetenz verfügt,
– der Lehrer empirisches Wissen hat 
über vielfältige Unterrichtsmethoden,
über die soziokulturellen Lebensbedingungen und
über die Lernvoraussetzungen seiner Schüler,
– die Bedeutung heimlicher Lehrpläne und Unterrichtstheorien für den Lehrer gering sind (vgl. Meyer, 1980,180f).

Die Diskrepanz solcher Ansätze zur Alltagspraxis gipfelt in dem bezeichnenden Phänomen des „Praxisschocks“ (vgl. Müller-Fohrbrodt et al., 1978), der dann entstehen kann, wenn Unterrichtsforschung sich auf einen kleinen Ausschnitt von Schulwirklichkeit, nämlich dem „Vorführstundenhalten“ bezieht und Lehrerausbildung die Beschränkung dieser wissenschaftlichen Grundlage nicht handlungsrelevant reflektiert.
Angesichts eines teilweise verzerrten Bildes des staatlichen Schulwesens aus reformpädagogischer Perspektive fordert Skiera (1993, 7) ein neues Überdenken der Schulkritik. Jedoch bleibt offen und undeutlich, was der Gegenstand der Schulkritik ist: Die in der Selbstdarstellung „vorgeführten“ Profile von Schulen oder die – schwer zu erfassende – Realität ohne Hospitanten, Beurteiler oder wissenschaftliche Beobachter. Die Gefahr einer erziehungswissenschaftlichen Fehldeutung von Lehreralltag besteht darin, dass die Erforschung von Schule und Lehrerhandeln nicht über den Gegenstand ihrer Untersuchung redet, sondern über ein Artefakt. Dieser nicht als solcher herausgestellte Teil von Schulwirklichkeit, nämlich das, was Schulaufsicht, Schulleiter und Lehrer (aus nicht genügend erforschten Gründen) den (häufig ahnungslosen) Hospitanten und Forschern der Hochschulen zeigen, ist nicht geeignet, Datenmaterial für die Lehrerbelastungsforschung zu liefern.

Das ungelöste wissenschaftsmethodische Problem ist die Frage, wie der Teil von Schulalltag, der nicht „vorgeführt” wird, erfasst werden kann. Ein erster, nicht zu vermeidender Schritt ist m.E. die Erkenntnis, dass zur Weiterentwicklung von Schule die Forschungsmethodik weiterentwickelt werden bzw. das verfügbare Wissen und Können empirischer Methodik auf diesen Gegenstand Anwendung finden muss.
Beim berufserfahrenen Lehrer (Experten) stellten Saupe & Möller (1981) in einer Befragung (n=404 Lehrer) fest, dass sie nicht selten durch schlechtes Gewissen belastet werden. Geprägt von hohen Ansprüchen an die Arbeit entsteht häufig das Gefühl, „eigentlich“ für die Schule mehr machen zu müssen. Nach Meyer (1980, 183) wäre dies möglicherweise damit zu erklären, dass die didaktischen Konzepte verinnerlicht werden und sogar als „Feiertagsdidaktiken“ Einfluss auf Handlungsentscheidungen im Berufsalltag behalten. Die Belastungsdynamik der Experten, die aus inneren Konflikten (zwischen Anspruch und Verwirklichung) entsteht, muss Gegenstand von Untersuchungen werden.

3.2 Widersprüchliche Ergebnisse aus Untersuchungen zu Arbeitszufriedenheit und Streß bzw. Burnout-Syndrom
3.2.1 These von der Gleichzeitigkeit positiver und negativer Beanspruchungswirkungen

Rudow (1994) stellt die These auf, dass mit dem Gesamtmaß der „Allgemeinen Arbeitszufriedenheit“ die Einstellungen der Lehrer zu ihrer Arbeit (besonders mit den Schülern) erfasst werde; einige Einzelmaße der AZ erfassten dagegen eher die kritische Reflexion von Organisationsmerkmalen (vgl.a.a.O.,169). Die Arbeitszufriedenheit erscheint nach Rudow (1994) abhängig von Einstellung und Motivation. Er sieht darin einen wesentlichen Unterschied zu den Quellen von Berufsstress oder Burnout. Diesen Phänomenen im Lehrerberuf schreibt er eher eine Abhängigkeit von Belastungsfaktoren zu. Im Sinne von Lazarus & Launier (1981) ist jedoch die Frage zu stellen, ob und in welchem Maße Belastungsfaktoren auch vermittelt über „Bewertungsprozesse“ wirken und damit auch bei Stressphänomenen (ebenso wie bei der Arbeitszufriedenheit) eine Einstellungs- und Motivationsbedingtheit zu finden ist. Dass Ergebnisse der Untersuchungen zu Lehrerbelastungen (Kapitel 2.3), zum Stress (Kapitel 2.5.) und zum Burnout-Syndrom (Kapitel 2.6.) in scheinbarem Widerspruch zu Ergebnissen einiger Arbeitszufriedenheitsstudien (Kapitel 2.4) stehen, lässt sich m.E. nicht mit Begriffsdefinitionen oder unterschiedlicher Determiniertheit allein (ausreichend) schlüssig erklären.
Besonders bei Befragungen im Lehrerberuf muss wegen des relativ großen Handlungsspielraums auf einen angemessenen Erhebungszeitraums großen Wert gelegt werden (vgl. Kapitel 2.4). Neuberger (1985) und Weber (1989) zeigen, dass Arbeitszufriedenheit zeitabhängig ist. So könnten bedeutsame Effekte entstehen, wenn Arbeitzufriedenheit während unterrichtsfreier Zeiten in den Ferien statt in Phasen des Zeugnisschreibens erhoben würde. Auch Kramis-Aebischer (1995) versucht den hohen Prozentsatz der berufszufriedenen Lehrer (vgl. die Untersuchungen von Roth (1972), Krampen (1978), Merz (1979), Waeltz (1980), Schärer (1993) und Grimm (1993)) nicht als nachgewiesene Größe zu betrachten, sondern kritisiert die Methodik der Arbeitszufriedenheitsforschung im Lehrerbereich (a.a.O.,125ff). Sie führt das Fehlen von Unzufriedenheitsäußerungen auf das hohe Berufsethos von Lehrern zurück (a.a.O., 127). Ergebnisse der Studie von Kramis-Aebischer (1995) weisen keine korrelativen Zusammenhänge zwischen Werten des Berufsethos und Burnout-Werten auf.
Aspekte aus Leistungsmotivations- und Stresstheorien scheinen dies zu bestätigen: Belastungen im Lehrerberuf können für einen engagierten Lehrer als beruflich-pädagogische Herausforderungen gelten und somit – zumindest bei gelingender Bewältigung – zufrieden machen (vgl. Rheinberg & Minsel, 1993, 359). Umgekehrt entsteht Arbeitsunzufriedenheit, wenn zu hohe Regulationsanforderungen Dauerstress und Burnout erzeugen (vgl. Kohnen & Barth, 1991,41). Untersuchungen über Lehrer aus den neuen Bundesländern zeigen, dass bei Lehrern mit ausgeprägtem „Reformgeist“ hohe Belastungen bei gleichzeitiger hoher Arbeitszufriedenheit zu finden sind (vgl. Buer et al., 1995). Jedoch scheint die Nichtanerkennung von Qualifikationen, Dienstjahren oder bisherigen Zusatzvergütungen von ostdeutschen Pädagogen auf deren berufliche Motivation einen negativen Einfluss auszuüben (vgl. Hoyer, 1996, 65ff). Studien zum Burnout lassen vermuten, dass bei Lehrern mit besonders ausgeprägten Helfermotiven hohe Burnout-Werte und eine geringe Arbeitszufriedenheit vorherrschen (vgl. Burke & Greenglass, 1988) und Burnout mit Einstellungsmaßen des Berufsidealismus korrelieren (Barth, 1992).
Für die Erfassung der Arbeitszufriedenheit ist das im Laufe der Sozialisation gewachsene Vergleichssystem von besonderer Bedeutung (Welche Ansprüche kann man üblicherweise in diesem Beruf stellen? Welche Motivation ist vorhanden?) (vgl. Fischer, 1989). Hier könnte die Bezugsgruppe, aus der die Lehrperson ihre Soll-Werte bezieht, Einfluss haben. So kann die Meinung entstehen, dass man zwar im fiktiven Fall den jetzigen Beruf nicht noch einmal ergreifen würde, sich jedoch im Vergleich zu anderen relativ gut damit arrangiert hat (vgl. Neuberger, 1985, 206f). Auch resignative Denkweisen können solche Haltungen hervorrufen (vgl. Semmer, Baillod & Ruch, 1990). Diese Phänomene sind in vielen Berufen anzutreffen. Daher erscheint es notwendig, auch das individuelle Vergleichssystem zum Gegenstand der Untersuchung zu machen (vgl. Semmer & Udris, 1995, 143ff).
Möglicherweise muss von einer potentiellen Gleichzeitigkeit von positiven und negativen Beanspruchungswirkungen ausgegangen werden. Auch in Einzelfallanalysen gibt es solche widersprüchlichen Ergebnisse. Trotz der berechtigten Hinweise auf methodische Probleme in der Lehrerforschung sehen wir in der genannten Widersprüchlichkeit einen entscheidenden Anstoß zur Theorie der Lehrerarbeit.
Die Ergebnisse aus Stress- , BO- und AZ-Studien sind nur scheinbar widersprüchlich (vgl. Rheinberg & Minsel, 1993). In Tabelle 3.2.1 führen wir einige Belastungskategorien und -faktoren auf und vergleichen die zugehörigen Ergebnisse der Belastungs-, Stress- und Burnout-Forschung und der Arbeitszufriedenheits-Forschung (vgl. Kapitel 2.3., 2.4, 2.5, 2.6. dieser Arbeit, Rudow, 1994 und Hofer, 1986). Dabei werden vorwiegend Studien zum Grundschullehrerberuf berücksichtigt. Die Tabelle verdeutlicht die potentielle Gleichzeitigkeit von sehr hohen (++) Werten der Arbeitszufriedenheit und der Belastung, des Stresses bzw. des Burnout bei bestimmten Kategorien.

Tabelle 3.2.1: Arbeitszufriedenheit, Belastung, Stress, Burnout in verschiedenen Belastungskategorien des Grundschullehrerberufs

Belastungskategorie
(Bezug: Grundschule)
ArbeitszufriedenheitBelastung / Stress / Burnout
*Arbeitsaufgaben:
Lehren, Erziehen, Beurteilen, Beraten, Innovieren
bei Idealismus: + ;
mit unangepasster,
reformfreudiger Haltung: –
bei hoher Aufgabenkomplexität: + ;
bei vielen neuen Lehrprogrammen: + ;
mit Helfermotiv: ++ ;
bei „Kunsthandwerkern”, die Befriedigung in der Sache sehen: – ;
bei konservativer Haltung: – ;
bei Berufsidealismus: +;
bei geringer Bindung an den Beruf: +
*Schüler; Lehrer-Schüler-Interaktion(Hauptdeterminante der intrinsischen AZ);
Schülerorientierte Aktivitäten: +;
bei lern- und verhaltensauffälligen Schülern: –
bei emotional gestörten Schülern: ++;
im Vergleich zu anderen Schulformen: ++
* Kollegenbei positiven Beziehungen: ++ ;
sonst wenig Einfluss
bei mangelnder Kooperation: + ;
bei sozialer Unterstützung: – , Effekt der sozialenUnterstützung ist bei Frauen größer als bei Männern.
* Schulleitungbei positiven Beziehungen: ++ ;
sonst wenig Einfluss
bei gesprächsbereiter Schulleitung: –
Lehrplänewegen des subjektiv als groß eingeschätzten Handlungsspielraums: ++?
*Arbeitszeit; TätigkeitsspielraumVereinbarkeit von Beruf und Privatleben: + bis +Rollenkonflikt, meist bei Frauen: + ;
bei Zielunsicherheiten: +
Berufsimage?
Schultyp Grundschule / Schulgrößebei kleinen Schulen: +?
Lehrmittel+ bis —?

+++ sehr hohe Werte
++ hohe Werte
+ mittlere Werte
– niedrige Werte
— sehr niedrige Werte
? unklar
* Gleichzeitigkeit von negativen und positiven Anteilen auffällig

Die mit * markierten Kategorien benennen potentielle Belastungsfaktoren. Sie können aber – bei anderem Vorzeichen – auch zur Arbeitszufriedenheit beitragen. Die grundschulspezifischen Fachzeitschriften spiegeln (seit den 80er-Jahren) das Engagement, mit dem nicht selten die Grundschularbeit betrieben wird. Sie greifen diese Themen(*) auf:

a) Lehren, Erziehen, Beurteilen, Beraten, Innovieren, Reform der Grundschule
(*Arbeitsaufgaben)
b) Freude und Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen
(* Schüler, Kollegen, Schulleitung, Eltern)
c) pädagogische Freiräume.

Diese Punkte können dem Grundschullehrer große Zufriedenheit verschaffen, ihn und sein Umfeld aber auch sehr belasten. Auch das gleichzeitige Vorhandensein von Zufriedenheit und Belastung ist denkbar.
Individuumspezifische Hintergründe müssen bei der Einschätzung der Gleichzeitigkeit positiver und negativer Beanspruchungsreaktionen in Erwägung gezogen werden. Aus der Verknüpfung von institutionellen Bedingungen (Handlungsspielraum, Machtstrukturen in der Beziehung von Lehrern und Schülern, Rollenzuschreibung) und psychischer Disposition einzelner Lehrer (z. B. zwanghafte Charaktere) könnte eine Verstrickung erwachsen, die sowohl für den Lehrer belastend als auch zufrieden stellend wirkt. Besonders psychoanalytische Studien zeigen Verbindungen auf zwischen frühen lebensgeschichtlichen Konflikten und aktuellen Berufsproblematiken von Lehrern (vgl. Fürstenau, 1969; Brück, 1978; Muck, 1980; Münch, 1984; Tymister, 1990; Schmidbauer, 1992; Linden, 1994).
Ein anderer Erklärungsansatz für das gleichzeitige Vorhandensein von Zufriedenheit und Belastung könnte die umgekehrte U-förmige Kurve der Beziehung zwischen Leistung und Erregungsniveau bieten (vgl.Anreassi, 1980, 335ff; Grings & Dawson, 1978, 87-104; Mandler, 1979, 163-167): Mit steigender Erregung durch Anforderungen oder auch „Herausforderungen“ erhöht sich die Nutzung der Erregung bis zur optimalen Leistung bei einem mittleren Erregungsniveau und fällt nach der Problemlösung wieder ab. Ein Beispiel wäre ein Lehrer, der eine sehr schwierige Arbeitsaufgabe zu seiner eigene Zufriedenheit mit Erfolg bewältigt. Bei weiterer Zunahme der Anforderungen (z.B. durch Zeitdruck, Mehrfachbelastung, Konflikte mit Kollegen) erfolgt der Leistungsabfall bis zur Leistungsunfähigkeit. Solche „Überforderung“ zeigt sich in vermehrten negativen Beanspruchungsreaktionen (in Folge von Fehlbeanspruchungen): Leistungen lassen nach, Fehler häufen sich, die Gereiztheit nimmt zu, die Krankheitsanfälligkeit steigt an. Im Kapitel 1.3 wurde die mögliche Dynamik eines Aufschaukelungsprozesses im Lehrerberuf vorgestellt.

3.2.2 Probleme durch widersprüchliche Forschungsergebnisse

Probleme bei der Erhebung von Beanspruchungsreaktionen treten auf, wenn der Untersuchungsgegenstand zu komplex ist oder sich als widersprüchlich darstellt. Im Lehrerberuf finden wir Menschen mit sehr unterschiedlichen Berufswahlmotiven, die z.T. mit verzerrten Vorstellungen (über den „bestbezahlten Halbtagsjob“ oder über ihre eigenen Fähigkeiten zur professionellen Interaktion mit Kindern) in die Schule gehen (vgl. die Erhebungen mit n=502 Lehrer-Studenten von Langthaler, 1995). Die gleichen Merkmale des Lehrerberufs, die zunächst als Vorteil galten, stellen sich nachher bei manchen als Belastungsfaktoren heraus. Trotzdem bleiben die meisten in dem Beruf und wechseln nicht zu einem, der die vermeintlichen Vorteile nicht, dafür aber die Abwesenheit von Nachteilen, zu bieten scheint.
Es lässt sich schwer empirisch untersuchen, ob Lehrer auch „Kraft aus der Interaktion mit ihren Schülern schöpfen“ oder ob es Störungen in der Kommunikation gibt, die sich u.a. als Belastung auswirken. Wohl eher ist anzunehmen, dass beispielsweise Schulkinder sowohl Quelle für Freude als auch für Frustration im Beruf sind. Je nach Art und Ziel der Befragung wird die Lehrerforschung bei vergleichbaren Stichprobe für beide Thesen empirische Belege aufzeigen können. Aufschlussreiche qualitative und quantitative Untersuchungen zu diesem Problemkreis wurden von Flaake (1989) und biographische Einzelfallstudien von Danz (1987) vorgelegt.

Ein wichtiges Problem bei der Erhebung von Belastungen und Beanspruchungsreaktionen ist es, dass die Handlungsregulation im Lehrerberuf relativ wenig durch bürokratische Regelungen eingeschränkt wird. Die Methoden und Inhalte der Lehrerarbeit unterliegen nur geringer Kontrolle; Rechtsverordnungen, Erlasse und Verwaltungsvorschriften schränken weniger ein, als aufgrund öffentlicher Diskussionen anzunehmen ist (vgl. Laaser, 1980; Reuter, 1981). Bei einer repräsentativen Lehrerbefragung (n=1454 Lehrer der Sekundarstufe I und der Primarstufe) gaben 1995 mehr als die Hälfte der Befragten an, mehr Handlungsspielraum im Unterricht zu haben als früher. 61% wünschen sich, dass nur Lernziele vorgegeben werden sollten; über Stoffauswahl und Stoffverteilung sollte die einzelne Schule selbst entscheiden (vgl. Kanders, Rolff & Rösner, 1996a). Lehrerforschung wird Beanspruchungsreaktionen zu erfassen haben, ohne jedoch objektiv festgesetzte, allgemeinverbindliche Rahmenbedingungen als handlungsleitend voraussetzen zu können. Jeder einzelne Lehrer und jede einzelne Schule kann sich auch heute schon eigene Rahmenbedingungen teilweise selbst schaffen.
Aus zu hoch gesteckten Anforderungen entsteht zuweilen das „Gefühl, nie fertig zu werden” (vgl. Saupe & Möller, 1981; Kretschmann, 1994). Die Folge ist dann eine permanente Überlastungs- und Zeitdrucksituation, die sich in der Gestaltung der Freizeit niederschlagen kann. Die von Saupe & Möller (1981) erfassten Daten zum Arbeitserleben von 404 in der GEW organisierten Lehrern wurden zu rund 36% bei Grundschullehrern erhoben und stellen repräsentativ die im Berufsalltag häufig zu hörenden Äußerungen dar. Folgende Beispiele aus den Fragebogenskalen fanden bei der angegebenen Prozentzahl der Befragten Zustimmung:
„Eigentlich habe ich fast nie das Gefühl, dass ich mit meiner Arbeit wirklich fertig bin.“ (71,1%)
„In der Regel kann ich auch den Sonntag nicht vollständig von Arbeit freihalten.“ (83,3%)
„Meine Arbeitszeit geht häufig in den Abend hinein, wo andere Leute Freizeit haben.“ (78,9%)
„Um meine Arbeit wirklich gut zu machen, müsste ich eigentlich zu Hause noch viel mehr Zeit hineinstecken.“ (79,6%)
„Es fällt mir schwer, nach der Arbeit abzuschalten.“ (87,9%)
„Nach der Schule bin ich erst einmal total kaputt“ (64%)
Über den Einfluss solcher Erlebensweisen auf das Familienleben liegen keine lehrerspezifischen Untersuchungen vor. Hier wären folgende Aspekte von Interesse:

– Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf Freizeit und Familie,
– Freizeit und Familie als Moderatoren der Stressprozesse,
– Stressoren im außerschulischen Bereich (vgl. Bamberg, 1991).

Stresstheoretische Ansätze und Untersuchungsinstrumentarien müssen für den Lehrerberuf erst entwickelt werden. Die Übersicht über Forschungsarbeiten zum Thema „Arbeit und Freizeit” (Bamberg ,1991,203f) zeigt, dass sich Auswirkungen der Arbeit auf die Freizeit und die Familie nicht in einem allgemeingültigen Modell beschreiben lassen. Lehrerspezifische, auf stresstheoretische Ansätze zurückgreifende Forschungsansätze zu dieser Thematik liegen nicht vor. Besonders wichtig erscheint die Frage nach positiven oder negativen Auswirkungen des großen Tätigkeitsspielraums im Lehrerberuf. Die Berufsausübung ist in großem Maße abhängig von der Familiensituation, in der die Lehrerin oder der Lehrer lebt: Bietet der Arbeitsplatz zu Hause die notwendigen Voraussetzungen, um Vor- und Nachbereitungen für den sozialen Beruf erledigen zu können? Entstehen im Konflikt mit Familieninteressen und -verpflichtungen neue Quellen für Unzufriedenheit oder Stress? Besonders bei Frauen zeigen geschlechtsspezifische Veränderungsprozesse im Laufe des Lebens Rückwirkungen auf die Berufsausübung (vgl. Czerwenka, 1997). Flaake (1989) wirft Teilen der Lehrerforschung ein generelles Ausblenden geschlechtsspezifischer Differenzen vor. Besonders schwerwiegend ist dieser Mangel in Untersuchungen an Lehrerinnen, da ein relativ großer Anteil an Arbeitszeit am häuslichen Arbeitplatz erledigt wird. Der häusliche Arbeitsplatz von Lehrerinnen und Lehrern ist jedoch häufig zusätzlich mit der Arbeit für die Familie ausgefüllt (vgl. Ulich, 1996). Daraus entstehen sehr belastende Konflikte zwischen beruflicher und familiärer Anforderung, die bei Frauen stärker ausgeprägt sind als bei Männern (vgl. Engelhardt, 1982; Streich, 1987; Greenglass, Pantony & Burke, 1988; Brehmer, 1989; Redeker, 1993). Entsteht eine besonders hohe Beanspruchung in der Lehrertätigkeit, wenn (z. B. durch die Situation als Alleinerziehender) die häusliche Arbeit für die Schule durch geschickte Arbeitsorganisation „nebenbei, wenn die Kinder mal gerade nicht da sind”, erledigt werden muss?
Fazit: Bei derselben Grundschullehrkraft kann hohe Zufriedenheit neben starker Belastung auftreten, ohne dass dies ein Widerspruch wäre. Wir betrachten den Widerspruch in einzelnen Ergebnissen von Untersuchungen als wesentliche Erkenntnishilfe. Die Gleichzeitigkeit von positiver und negativer Beanspruchungswirkung bei einigen Belastungsfaktoren sehen wir als typisches Merkmal des motivierten und engagierten Grundschullehrers. Möglicherweise muss hier von einer Dialektik der Beanspruchungen ausgegangen werden.

3.2.3 Konsequenz für die Erfassung von Beanspruchungsreaktionen

Die Erfassung von Beanspruchungsreaktionen mit Hilfe von Befragungen wird durch den zuletzt beschriebenen Umstand komplizierter. Auch physiologische Stressmessungen lassen sich auf diesem Hintergrund schwer interpretieren, da Aktivierungen mit negativem Vorzeichen schlecht zu unterscheiden sind von Aktivierungen mit positivem Vorzeichen. Die Interpretation solcher Daten ist angewiesen auf zusätzliche Informationen, z.B. auf die retrospektive Kommentierung des Unterrichts durch die Lehrperson selber (vgl. Video-Recall: Kapitel 4.2, 6.7, 8.7 und 11).
Zusammenfassend formulieren wir eine Annahme, die nicht im Rahmen dieser Arbeit weiter untersucht werden kann und empirischer Überprüfung bedürfte:
Die Annahme besagt, dass Lehrer in aufgezeichneten Gesprächen und retrospektiv im Video-Recall häufig diejenigen Punkte als Stressoren im Unterricht benennen dürften, die in den dargestellten Untersuchungen über Arbeitszufriedenheit und Stress / Burnout / Belastung widersprüchliche Ergebnisse aufweisen, nämlich:
a) Lehren, Erziehen (Arbeitsaufgaben, Regulationsanforderungen).
b) Regulationshindernisse im Umgang mit Schülern: besonders sind hier zu nennen die verhaltensauffälligen, die speziell die Klassenführung der Lehrerin herausfordern, und die leistungsschwächeren, die speziell adaptive Unterrichtsgestaltung erforderlich machen.
c) Hohe Anforderungen durch neue Lehrmethoden im Sinne der Reform der Grundschule – unter Berücksichtigung des relativ großen Handlungsspielraums.

3.3 Mangel an Vergleichsuntersuchungen mit anderen Berufsgruppen

Ständiger Umgang mit und erhöhte Verantwortung für andere Menschen kennzeichnet die Arbeit in sozialen Berufen. Besondere psychosoziale Beanspruchungen ergeben sich aus der Tatsache, daß „die eigene Persönlichkeit das wichtigste Instrumentarium” (Schmidbauer, 1992) in der Berufsausübung darstellt. Um die (hypothetische) Differenz zwischen der Persönlichkeit des Lehrers im ganzen (zuzurechnen einer privaten Sphäre) und dem „für das berufliche Handeln wichtigen Teil der Person“ zu verdeutlichen, führen Bauer, Kopka & Brindt (1996) in einer qualitativen Studien über professionelles Handeln und Bewusstsein den Begriff des „professionellen Selbst“ ein. Damit wird eine „Instanz“ bezeichnet, die auswählt, ordnet, entscheidet, wertorientiert handelt und berufliche Erfahrung, Diagnosekompetenz, Handlungsrepertoire (einschließlich Kommunikations- und Interaktionskompetenzen) mit pädagogischen Werten und Zielen verbindet. Es bleibt jedoch offen, ob eine solche theoretische Kategorie neben kognitiven auch emotionale Problemfelder der pädagogischen Professionalität erfassen kann. Angesichts der vielfältigen, empirisch erhobenen Beanspruchungen im Lehrerberuf (vgl. Kapitel 2) muss gefragt werden, welche Dynamik das Zusammentreffen von schulspezifischen Arbeitsbedingungen mit bestimmten Lehrer-Persönlichkeitsmerkmalen erzeugt. Diese in jedem Einzelfall anders gelagerte Struktur (noch dazu: in einer in Entwicklung befindlichen Schule !) bereitet viele methodische Probleme beim Vergleich zu anderen Berufsgruppen.

Im Anschluss an die Überlegungen zur Gleichzeitigkeit von positiven und negativen Beanspruchungsreaktionen bleibt die Frage offen, wie in anderen Berufen die Balance zwischen Herausforderung und Überlastung, Arbeitszufriedenheit und Stress gehalten wird.

Um die lehrerspezifischen Beanspruchungen einschätzen zu können wären vergleichende Studien sowohl zu anderen Sozialberufen als auch zu verschiedenen anderen Berufsgruppen mit unterschiedlichen Kommunikationsanforderungen erforderlich. Neuere Hinweise auf schulformabhängige Unterschiede in der Arbeitszufriedenheit und Belastung liegen vor (vgl. z.B. Straßmeier, 1994; Kretschmann, 1994; Grimmer, 1995), jedoch fehlen ausreichende empirische Vergleichsstudien zwischen Lehrerberufen, sozialen Berufen und anderen Berufstypen. Ist der Lehrer aufgrund der beruflichen, sich in sozialen Interaktionen gestaltenden Anforderungen in besonderer Weise „anfällig” für die Entwicklung negativer Beanspruchungsmuster? Möglicherweise treten – besonders bei älteren Lehrern – Probleme der Messbarkeit pädagogischer Leistung und Unsicherheiten bei der Objektivierung und Relativierung der eigenen Lage auf, die einen Mangel an realistischer Selbsteinschätzung zur Folge haben (vgl. Bochynek, 1994).

Die Literaturübersicht zu empirischen Studien zur Lehrerbeanspruchung (vgl. Kapitel 2) weist folgende Bereiche auf, in denen einige Untersuchungen zum Lehrerberuf im Vergleich zu anderen Berufen vorliegen:

  • Arbeitszeit (vgl. Welzel, 1978; Schönwälder, 1993)
  • Gesundheitsstand bzw. Dienstunfähigkeit (vgl. Scheuch & Vogel, 1991; Heesen, 1993; Schaarschmidt & Fischer, 1996)
  • Belastung durch Lautstärkepegel (vgl. Lazarus, 1986; Sone & Kono, 1990; Hecker, 1994)
  • Burnout (vgl. Maslach & Jackson, 1981; 1986; Burke & Greenglass, 1989a; Schaarschmidt & Fischer, 1996).