Der Hofmeister

von Jakob Michael Reinhold Lenz/Bertolt Brecht

Das Schulwesen als „deutsche Misere“ – Warum heute den „Hofmeister“ spielen?

Gehört Deutschland heute zu den „Schurkenstaaten“, die Menschenrechte bewusst verletzen? Urteilen Sie selbst, ob Kinderrechte in deutschen Schulen geachtet werden: Der UN-Menschenrechtsbeauftragte Vernor Munos musste Deutschland ermahnen, weil manche Flüchtlingskinder heimlich zur Schule gehen müssen – in der Angst, erwischt und dann abgeschoben zu werden. Er kritisierte, dass Behinderte in Deutschland noch immer keine freie Schulwahl haben, obgleich eine entsprechende UN-Konvention seit 2009 geltendes Recht ist.

Zeit für das Theater in der Kreide, den Dingen auf den Grund zu gehen. Dabei stößt es auf die „deutsche Misere“ rund um die Schule, die schon Brecht in seiner Bearbeitung des „Hofmeister“ von Lenz aufs Korn nimmt.

Und der Klassiker von 1774 bekommt plötzlich seinen Ungehorsam zurück. Reinhard Stähling, selber Lehrer in Münster, inszeniert rotzfrech ein Stück über Schule im aktuellen Deutschland. Ein Protestschrei. Ein zweistündiges Stück schrilles, mitreißendes Rocktheater entsteht jeden Abend neu:  Über allem schwebt improvisierte Rockmusik von Thomas Hanke (Gitarre und Laute) und Thomas Schnellen (Pecussion und elektronischer Klang). Dokumentaraufnahmen über die Processione dei Misteri di Trapani von Luca Lucchesi und Hella Wenders, die sie 2008 in Sizilien gedreht haben, sprengen den Rahmen.

Wieder einmal – nach den gefeierten Inszenierungen von Brecht Klassikern wie  „Mutter Courage“ oder „Galilei“  – beweist dieses münstersche Theater seine Meisterschaft zur schonungslosen Satire.


Westfälische Nachrichten 23.06.2009

Die Schule von morgen

Lehrer aus ganz Deutschland planen in Münster neue Unterrichtsformen
Dr. Reinhard Stähling, Schulleiter der Grundschule am Berg Fidel, ist auch Leiter des „Theaters in der Kreide“.
Foto Zippelius

MÜNSTER. Deutschland ein Schurkenstaat. in dessen Schulen Menschenrechte verletzt werden? Dieser Frage wollte das „Theater in der Kreide“ mit der Aufführung des Stücks „Hofmeister“ auf den Grund gehen.
Zumindest laut Programmheft, das die Kritik Vernor Munoz, Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats, am Deutschen Schulsystem erwähnte. Das passte gut, bildete das am Sonntag in der Geistschule aufgeführte Stück doch den Auftakt eines Lehrertreffens des reformpädagogischen Schulverbundes „Blick über den Zaun“.

Munoz hatte in seinem Bericht vom April 2007 verschiedene Zustände bemängelt. So hätten Kinder mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, etwa Flüchtlinge oder Asylbewerber, keinen freien Zugang zur Bildung. Behinderte Kinder könnten ihre Schule nicht frei wählen. Die Verteilung der Kinder auf verschiedene weiterführende Schulen nach der vierten Klasse käme zu früh.

Illegale Schüler
Dr. Reinhard Stähling, Schulleiter der Grundschule am Berg Fidel, ist auch Leiter und Regisseur des „Theaters in der Kreide“. Er ist überzeugt, dass Munoz Kritik berechtigt ist. „In Deutschland gibt es circa 10 000 Schüler, die sich illegal im Land aufhalten und deren Recht auf Bildung nicht gesichert ist“, sagt Stähling.
Einige gehen heimlich zur Schule, riskieren die Abschiebung für den Fall, dass sie entdeckt werden. Stähling sagt, er nähme grundsätzlich jedes Kind an seiner Schule auf, ohne.nach dessen Hintergrund zu fragen, denn Bildung sei ein Menschenrecht. Er bestätigt, dass die Integration behinderter Kinder und das gemeinsame Lernen jüngerer und älterer Schüler das Sozialverhalten der Kinder deutlich stärkt. Gemeinsam mit der Geistschule ist er dabei, eine neue internationale Schule aufzubauen, welche die Jahrgänge 1 bis 13 durchgehend bis zum Abitur begleitet.

Das Projekt ist bereits mit der Zusammenlegung der Klassen 5 und 6 gestartet und soll nun Stück für Stück bis zur 13 aufgebaut werden. Das Treffen der 20 Lehrer aus ganz Deutschland dient dem Austausch über derartige neuen Unterrichtsformen. Bei regelmäßigen gegenseitigen Besuchen beobachten die Lehrer die Arbeit der Kollegen und werten sie später gemeinsam mit ihnen aus.
Auf dem Programm steht auch die Aufführung des Stücks „Hofmeister“. Das von Jakob Michael Reinhold Lenz geschriebene und von Bertholt Brecht fürs Theater überarbeitete Stück spiegelt den inneren Kampf der Lehrer mit sich selbst wider. Der Lehrer als öffentliche Person, die es allen recht machen soll, muss sich verbiegen, um im Beruf Erfolg zu haben.
Die Antwort auf die im Programmheft gestellte Frage liefert es nicht. Wie die von Munoz bemängelten Zustände verbessert werden können, damit müssen sich Stähling und seine Kollegen selbst auseinander setzen.
Ron Zippelius


Soundcheck: Wir stimmen durch

Probenfotos von B. Brecht, J. M. R. Lenz: Der Hofmeister (Fotos Friedel Callies)


Theaterkritiken

Theaterkritik in den WN vom 14.09.2010 von der Premiere

Der Dorflehrer mit Narrenkappe

Premiere von „Der Hofmeister“: Collage aud Kabarett und Rocktheater

Von Gerold Marius Glajch

Münster. Ein Protestschrei zur „deutschen Misere“ rund um die Schule und das Bildungswesen war mit dem Stück „Der Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz/Bertolt Brecht angekündigt. Der erstaunte Zuschauer erlebte im Bürgerhaus Kinderhaus eine Collage aus Kabarett und Rocktheater. Mit der Premiere der tragischen „Sturm und Drang“-Komödie „Der Hofmeister“ durch das münsterische „Theater in der Kreide“ blieb Regisseur Reinhard Stähling damit seinem Dramaturgie-Konzept treu, „Stücke gegen jede Erwartungshaltung spektakulär und clownesk zu inszenieren“.
Als ambitioniert kann die eigenwillige Interpretation des Dramas deshalb gelten, weil mutig neue Wege beschritten wurden. Große Anerkennung verdienen zudem die leidenschaftlich agierenden Darsteller Frederik Stähling (der Schüler), Felix Stähling (der feuerschluckende Majorssohn Leopold) und Petra Schulte (die mondäne Majorsgattin und Rezitatorin der Brecht-Texte).

Schauspieler Norbert Kauschitz dominierte die Szenerie mit der facettenreichen Darstellung der Figuren des „Hofmeisters“ Läuffer, des Onkels, Pastor Läuffer, sowie des Dorflehrers Wenzeslaus. „Kann er seinen Cornelio?“ Drakonische Maßnahmen werden dem Filius von seiner Mutter, der Majorsgattin, angedroht. Denn der lässt sich vom Hauslehrer lieber das Feuerschlucken beibringen, als sich mit lateinischen Texten über römische Feldherren herumzuplagen. Töchterchen Gustchen (sie tritt im Stück nicht auf) soll der Hofmeister hingegen „zart anfassen“. Der fühlt sich überrumpelt. Denn Frau Major überlistet den unterwürfigen Angestellten mit weiblichen Reizen.

Auch Pastor Laeuffer kann für seinen Neffen, den „Hofmeister“ Laeuffer, keinen gerechten Lohn bei der sich mondaen gebenden Frau Major einfordern. (v. l.) Norbert Kauschitz und Petra Schulte – Foto: gmg

Mehr Arbeit, weniger Lohn – das ist das Ergebnis. Auch der zur Unterstützung angereiste Onkel, Pastor Läuffer, kann weder Herz noch Verstand der eifrig Sekt schlürfenden Dame ansprechen. Es bleibt beim Hungerlohn. Selbst das zugesagte Pferd wird Hofmeister verweigert: „In die Bibliotheken will er? Pah, in die Bordelle!“ Tatsächlich ist Läuffer, wie das Stück zeigt, nicht Herr seiner Triebe. So schwängert er die Tochter der Majorin, die ihn daraufhin mit Schimpf und Schande fortjagt.

Durch Kauschitz Darstellung des Dorflehrers Wenzeslaus als Kölner Jeck mit Narrenkappe wird das Stück zum grotesken Volksschwank. Aberwitzige Szenen rund um die „heile Welt“ einer Gemeinschaftsschule nehmen aber ein jähes Ende: Wenzeslaus, der Läuffer Unterschlupf gewährt, erfährt, dass auch seine Tochter von Läuffer geschändet wurde.

Doch bevor er zur Rache schreiten kann, hat Läuffer sich selbst bestraft.
Über all diesen turbulenten Tumulten schwebten die musikalischen Improvisationen von Thomas Hanke und Thomas Schnellen – als Klangkulisse zwischen sphärischen Emotionsverstärkern und opulentem Gitarren-Rock.


MZ Dienstag 14. September 2010

Der Hauslehrer als Triebtäter 

Theater: „Der Hofmeister“ lässt Fragen offen
Hofmeister Norbert Kauschitz (r.) bringt seinem Schüler (Felix Stähling) die Kunst des Feuerschluckens bei.
MZ-Foto Sauer

MÜNSTER. Hermann Läuffer soll als Hauslehrer auf dem Gut von Berg dem Sprössling Leopold Wissen und Manieren beibringen. Doch Läuffer scheitert, Nur das Feuerschlucken kann er ihm vermitteln. Läufer braucht selbst noch einen Lehrmeister, der ihn in der Welt richtig verortet. Er ist ein Getriebener seiner selbst, hat sich nicht unter Kontrolle. Er fordert immer mehr Lohn, bekommt bald gar nichts mehr, schändet Gutstochter Gustchen. Um sich in den Griff zu bekommen, kastriert er sich. Dafür wird er vom Dorflehrer als Vorbild für die Jugend gefeiert. Vor spärlichen Rängen führte das Theater in der Kreide im Bürgerhaus Kinderhaus die Tragikomödie „Der Hofmeister“ (1774) von Jakob Michael Reinhold Lenz auf: Bertolt Brecht bearbeitete das Stück rund um Bildung und Erziehung im Jahr 1950 zu einem Gleichnis vom „ABC der Teutschen Misere“ und der „Selbstentmannung der Intellektuellen“ um. Ohne diese Vorkenntnisse versteht man beim „Theater in der Kreide“ aber oft nur wenig. Das liegt nicht an den Schauspielern. Petra Schulte paraphrasiert in bester Brecht-Manier das nicht gezeigte Geschehen betont sachlich, mimt Majorin Berg despotisch-sexy. Norbert Kauschitz gibt mit vollem Körpereinsatz und tiefgründiger Pantomime den ruhelosen Hofmeister als schwäbelndes Häufchen Elend.

Felix und Frederik Stähling spielen zwei gelangweilte Schüler. Die Regie von Reinhard Stähling setzt auf die Aneinanderreihung prägnanter Szenen und einen sich ewig wiederholenden, aber im Sinn nicht erschließenden Kurzfilm über eine Prozession in Sizilien. Da helfen auch die Taschenspielertricks nicht, die Zauberer Stefan Lammen in den Pausen dem Publikum präsentiert. Nur selten wird die gesellschaftskritische Nummernrevue gesprengt, wenn etwa Kauschitz als Hofmeister mit einer Laterne sorgenvoll die Zuschauer anleuchtet und dabei doch auf der Suche nach sich selbst ist. Gelungen ist auch seine karikierende Darstellung des Dorflehrers Wenzeslaus mit kölschem Dialekt und Narrenkappe. Die herausragende Live-Musik von Thomas Hanke und Thomas Schnellen ist aus einem Guss. In einem Mix aus sphärischem Krautrock, groovigem Pop und donnerndem Hard Rock bieten sie einen erstklassigen Soundtrack. Das besitzt mehr Zusammenhalt als die Theaterszenen. So verlässt man mit gemischten Gefühlen den Theatersaal: mit der Erkenntnis, dass schon vor 250 Jahren das deutsche Bildungssystem krankte, Triebtäter auch im engstem Umfeld ihr Unwesen trieben und die Gesellschaft ohnmächtig reagierte. pws


Westfälische Nachrichten, Sendener Lokalteil vom 27. September 2010

Schule absurd – wie vor 100 Jahr auch heute noch wahr

„Der Hofmeister“: Theater bei der KuKiS
Das „Theater in der Kreide“ mischte das aus dem Jahr 1774 stammende Stück „Der Hofmeister“ neu auf und demonstrierte aktuelle Bezüge. Foto: mgoe

-mgoe- Senden. Nur weil „Der Hofmeister“ bereits im Jahr 1774 von Jakob Michael Reinhold Lenz geschrieben wurde, heißt das noch lange nicht, dass das Stück heute trocken und staubig dargestellt werden muss. Das bewies die Aufführung, zu der die Kunst- und Kulturinitiative Senden (KuKIS) am Samstag in die Friedenskapelle eingeladen hatte.

Nachdem vor 60 Jahren schon Bertolt Brecht eine eigene Version der lange als unspielbar geltenden Komödie auf die Bühne gebracht hat, mischten nun Reinhard Stähling und das „Theater in der Kreide“ die Geschichte neu auf. Der Regisseur baute in das Stück um den schwäbischen Hofmeister Läuffer und den Dorfschullehrer Wenzeslaus Rockmusik, ein Video, eine Nebelmaschine und ein Spiel mit dem Feuer (Flammen) ein. 

Schnell waren die Zuschauer gefesselt. Schauspielerin Petra Schulte las unter der improvisierten musikalischen Begleitung von Thomas Hanke und Thomas Schnellen Texte aus dem Stück vor, bevor sie als Majorin schauspielerisch aktiv wurde.

Dass Lehrer-Darsteller Norbert Kauschitz nicht nur starr nach Text spielen kann, bewies er, als der Strom in der Friedenskapelle ausfiel und die rund 60 Zuschauer auf einmal in stiller Dunkelheit saßen. „Sie haben Ihr Eintrittsgeld ja nicht umsonst bezahlt“, bemerkte er und schwätzte in tiefstem Schwäbisch munter drauflos, bis das technische Problem behoben war.

Während der Pause wurden viele irritierte Blicke gewechselt. „Warum hat der jetzt sokomisch getanzt?“ und „Der mit den Hosenträgern ist schon ein bisschen komisch, oder?“ waren nur einige der Frage, die häufiger gestellt wurden. Als es nach der Pause mit dem Stücke weiterging, war dem „faulen Zusehen“ ein Ende bereitet und Lehrer Wenzeslaus begann das Publikum aktiv mit ins Stück einzubauen. Die beiden Schüler, gespielt von Felix und Frederik Stähling, hatten ein Faible für Klebeband entwickelt, und so wurden auch dem Publikum die Hände zusammengeklebt.

Im dargestellten Unterricht wurde anschließend lebhaftdas Thema „Was mache ich, wenn mir etwas zwischen den Zähnen hängt?“ behandelt. Die Lösung „spülen, spuckenund gurgeln“ wurde dann auch live auf der Bühne demonstriert. 

Obwohl der Unterricht so, wie er zu sehen war, eindeutig den Schulalltag der Vergangenheit zeigte, fühlte es sichfür die meisten gar nicht mal so fremd an. Es hat sichscheinbar doch nicht allzu viel verändert seit 1774. Mit dieser Darstellung des Unterrichts machten die Schauspieler allen Anwesenden klar: „Vor 100 Jahr, vor zehn Jahr und vielerorts ist’s auch heute noch wahr!“


Westfälische Nachrichten, Lüdinghausener Lokalteil vom 17. November 2010

Bürgerliches Trauerspiel

„Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung“ wurde im Ricordo als Rocktheater präsentiert. Foto: (hh)

Lüdinghausen – An Aktualität mangelte es nicht, obwohl das Stück aus dem Jahre 1774 stammt. Seinerzeit hielt der Autor Jakob Michael Reinhold Lenz in seiner Komödie „Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung“ dem deutschen Bildungssystem den Spiegel vor.

Bertolt Brecht nahm die Idee auf, bearbeitete das Thema und verwandelte die Komödie 1940 in ein bürgerliches Trauerspiel. Im Nachkriegsdeutschland feilte er an diesem bis dato „unspielbaren“ Werk so lange, bis er 1950 am Deutschen Theater in Berlin die Premiere feiern konnte.

Für Reinhard Stähling und sein „Theater in der Kreide“ Grund genug, sich ebenfalls mit diesem Werk auseinanderzusetzen: Angesichts der gegenwärtigen Diskussion zur Bildungspolitik also ein hochaktuelles Sujet. Herausgekommen ist ein zweistündiges Rocktheater, mit dem er nun im Ricordo sein Publikum begeisterte. Als Gegenpart zu den Protagonisten Petra Schulte, Norbert Kauschitz, sowie Frederik und Felix Stähling setzten Gitarrist Thomas Hanke und Thomas Schnellen (Percussion und elektronische Klänge) die schauspielerischen Leistungen musikalisch in Szene.