Der Klassenrat – Fortführung reformpädagogischer Praxis

Wir geben euch eins: Sehnsucht nach einem besseren Leben, welches es nicht gibt, aber doch einmal geben wird, ein Leben der Wahrheit und Gerechtigkeit.

Janusz Korczak 1919

Die Bedeutung des Klassenrats für die demokratische Erziehung
Der Klassenrat ist der „Ort, wo die Kinder sich in der Klassengemeinschaft mit ihrer Persönlichkeit, Verantwortungsbereitschaft und aktiver, freiwilliger Teilnahme einbringen können“ (Dreikurs u.a. 1987, S.122).
Nach Dreikurs u. a. (1987, S.123) lernen Kinder in den regelmäßigen Gruppengesprächen
– sich gegenseitig zuzuhören
– gegensätzliche Standpunkte zu bedenken und andere Menschen zu verstehen
– anderen Menschen als gleichwertige Partner mit Achtung zu begegnen
– konstruktiv mit Frustrationen umzugehen und beunruhigende Probleme zu bearbeiten.

Der Klassenrat beabsichtigt in erster Linie die Ermutigung der Kinder. Ihre Stellung im Schulleben wird gestärkt. Das Wort des Kindes zählt. Dem polnischen Arzt und Pädagogen Korczak ging es in seinem Waisenhaus auch um Gleichberechtigung gegenüber den Erwachsenen und Einschränkung von Willkür:

„Das Kind hat ein Recht darauf, dass seine Angelegenheit ernsthaft behandelt und gebührend bedacht wird. Bis jetzt hing alles vom guten Willen und von der guten oder schlechten Laune des Erziehers ab. Das Kind war nicht berechtigt, Einspruch zu erheben. Dieser Despotismus muss ein Ende haben“ (Korczak 1967, S. 304).

In bester demokratischer Tradition geht es in der Klassenversammlung oder im Klassenrat um das „Mitregieren“ (Kiper 1997) der Kinder in der Schulgemeinschaft.

„Der Klassenrat ist ein Instrument, das Kindern dabei hilft, von Beginn ihrer Schulzeit an ihre Angelegenheiten in der Schulklasse (…) selbstverantwortlich zu regeln.“ (Kiper 2003, S.198)

Das Miteinander vieler Menschen in einem „Haus des Lernens“ ist jedoch nicht ohne Konflikte denkbar. Folglich sind die Themen der Klassenversammlungen neben der Planung des gemeinsamen Lebens auch die vielfältigen Probleme der Kinder.

Reformpädaggische Wurzeln des Klassenrates
Ein Blick in die Geschichte zeigt die reformpädagogischen Wurzeln des Klassenrats. Eines der vielen nennenswerten Beispiele waren die „Kinderrepubliken“ der sozialistischen Kinderfreundebewegung, die von der Individualpsychologie Alfred Adlers geprägt war. Im Vergleich zu heute fanden solche Bewegungen regen Zulauf: 1927 veranstalteten die „Kinderfreunde“ zum ersten Mal das Großzeltlager „Seekamp“. 2300 Kinder lebten vier Wochen in „Dorfgemeinschaften“, die von demokratisch gewählten Kinderabgeordneten geleitet wurden. Es war ein Kennzeichen von reformpädagogischen Schulen und Heimen der zwanziger Jahre, dass das Zusammenleben von Kindern, Jugendlichen und Pädagogen durch Versammlungen aller Beteiligten in mehr oder weniger demokratischer Weise geregelt wurde. In Korczaks Waisenhaus hatten die Kinder nicht weniger als 1000 Gesetze erarbeitet und in der „Thora“ , dem Gesetzbuch niedergelegt. Der „Sjem“ , das Parlament der Kinder entschied und das „Kameradschaftsgericht“ beriet über Streitigkeiten. Wir hören heute mit Erstaunen von der 1917 in den USA gegründeten Father Flanagans Boys Town, einer von jugendlichen „Asozialen“ selbst verwalteten Gemeinde, die sogar Stadtrechte besaß. In den selben Jahren verwandelten junge Rechtsverletzer unter der Leitung von Makarenko einen halb zerstörten Gutshof in einen landwirtschaftlichen Betrieb. Alle wichtigen Fragen des täglichen Lebens wurden in Ratsversammlungen der jugendlichen Gruppenleiter besprochen. Auch in Deutschland gab es damals bedeutende Schritte zur Selbstbestimmung junger Menschen. In der Berliner Fürsorgeerziehungsanstalt „Lindenhof“ entstand der „Jungenrat“ und das selbstverwaltete „Jungengericht“.
Dass solche reformpädagogischen Ansätze im deutschen Erziehungswesen nur wenig Wurzeln schlugen, lag nicht nur an der Zerstrittenheit der verschiedenen reformpädagogischen Richtungen, sondern auch an den Faschisten, die viele fortschrittliche Pädagogen ins Ausland vertrieben oder ermordeten (vgl. dazu Stähling 2002a). Bis heute haben die weitaus meisten deutsche Schulen und Heime nicht das demokratische Niveau erreicht, das manche Reformpädagogen in den zwanziger Jahren in ihren Schulen und Heimen erarbeitet hatten (vgl. Stähling 2002c). Und das, obwohl sich Pädagogik und offizielle Schulpolitik schon lange gerne mit reformpädagogischen Namen schmücken. In der Alltagspraxis hören sich die erwähnten Konzepte noch immer wie Utopien an.

Einer der Väter der Reformpädagogik, der Amerikaner John Dewey schrieb das Buch „Demokratie und Erziehung“ . Nach Dewey hat die Schule die Möglichkeit, „sich mit dem Leben zu verbünden und wirklich die Wohnstätte des Kindes zu werden. Es lernt in ihr, weil sein Leben eine Richtung hat; sie ist nicht nur eine Stätte, um Lektüre zu lernen, die einen abstrakten und fernen Bezug auf irgend ein denkbares Leben hat, das irgendwann in der Zukunft gelebt werden soll. Die Schule erhält die Chance, eine Miniatur-Gemeinschaft zu werden, eine embryonische Gesellschaft.“ (zit.n. Meyer 1999)

In reformpädagogischer Tradition versucht heute Hartmut von Hentig die Schule neu zu denken:
„Nur wenn wir im kleinen, überschaubaren Gemeinwesen dessen Grundgesetze erlebt und verstanden haben – das Gesetz der res publica, das des logon didonai (der Rechenschaftspflicht), das der Demokratie, das der Pflicht zur Gemeinverständlichkeit in öffentlichen Angelegenheiten, also der Aufklärung, das des Vertrauens, der Verlässlichkeit, der Vernünftigkeit unter den Bürgern und nicht zuletzt das der Freundlichkeit und Solidarität unter den Menschen überhaupt – werden wir sie in der großen polis wahrnehmen und zuversichtlich befolgen.“ (Hentig 1993, S. 191)

Ausgangspunkt der Gespräche im Klassenrat sind meistens die Probleme der Einzelnen mit anderen in der Klasse. Durch das Mitfühlen der Gruppe erlebt jedes Kind, dass es nicht allein ist. Die Erziehungseinrichtungen großer Pädagogen wie Flanagan, Makarenko, Korczak, Kanitz, Freinet, Neill, Reichwein oder Petersen stehen für die konsequente Weiterentwicklung der Idee, die Gruppe in den Erziehungsprozess mit einzubeziehen. Ein Kerngedanke des Klassenrats im Gegensatz etwa zum „Streitschlichter“ -Verfahren besteht in der Beteiligung der gesamten Klassengemeinschaft an der Lösung von Problemen (vgl. Flissikowski 2002). Dabei tragen die Kinder dazu bei, dass eine Streitkultur an die Stelle von Gewalt tritt, damit manche Gewalttätigkeit von vornherein vermieden wird (vgl. Bergk 2002). Fritz Oser (in diesem Band) spricht dabei „von der Zuhilfenahme des Bösen zur Erreichung des Guten“ , was bedeutet, dass die Auseinandersetzung der Gruppe mit dem „Ärgern“ oder dem „Stören“ moralische Werte in der Gemeinschaft entstehen lässt. Das Überwinden des „Schlechten“ , des Tiefgangs wirkt wie ein Lernanreiz. Die Krise wird zur Chance.

Klassenrat im sozialen Brennpunkt – Ein Praxisbericht
Es gibt viele Möglichkeiten, einen „Klassenrat“ zu verwirklichen (vgl. Praxisberichte von: Post-Lange 2000; Kiper 1999; Krall 1999; Spiess 1993; Grabbe 1992) . Die Gesprächsführung, die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Regelmäßigkeit des Stattfindens werden unterschiedlich praktiziert. So leiten in einigen (meist höheren) Klassen die Klassensprecher das Gespräch, in anderen ist die Strukturierung des Gesprächs in der Hand der Lehrerin. Mancher Pädagoge überlässt den Kindern die Entscheidung, ob sie sich während der Versammlung im Sitzkreis am Gespräch beteiligen oder in der Klasse still arbeiten. Die Praxis zeigt jedoch, dass normalerweise alle Kinder dabei sein wollen, wenn es um ihre Themen geht. Innerhalb der Klassenratsstunde ist es auch möglich, dass eine Kleingruppe außerhalb des Gesprächskreises selbstständig nach einer Lösung ihres Problems (z.B. Uneinigkeit bei der Verteilung des Tischdienstes) sucht. Andere Lehrerinnen führen immer dann einen Klassenrat durch, wenn etwas vorliegt, was besprochen werden soll. So gibt es phasenweise tägliche Klassenratssitzungen oder aber wochenlange Pausen. Das regelmäßige Stattfinden des Klassenrats an einem bestimmten Wochentag hat dagegen eine präventive und entlastende Funktion. Die Kinder spüren die Sicherheit, dass ihre Anliegen nicht vergessen werden, auch wenn sie nicht unverzüglich besprochen werden können. Dabei ist es sehr wichtig, dass sich die Kinder auf den Termin verlassen können.

Der nun folgende Praxisbericht zeigt einen Weg, den Klassenrat vom ersten Schuljahr an zu verwirklichen. Er basiert auf meiner 20-jährigen Erfahrung mit sehr unterschiedlichen Klassen.

Die Kinder unserer Schule wachsen zu 40% in Familien auf, deren Eltern Sozialhilfe beziehen. 60% der Schüler stammen aus Familien mit nichtdeutscher Herkunftssprache. Ohne eine regelmäßige ernsthafte Auseinandersetzung mit den vielschichtigen Anliegen der Kinder wären Unterrichtsprozesse durch soziale Konflikte häufig beeinträchtigt. Unterrichtsqualität und Disziplin (vgl. Stähling 2000) sind hier eng miteinander verknüpft. Das Lösen von Problemen im Klassenrat gehört nicht nur zur demokratische Alltagskultur, sondern macht auch das Unterrichten leichter. Schon aus psychohygienischen Gründen ergibt sich für alle Klassenlehrerinnen die Notwendigkeit, Gesprächskreise zur Regelung des Zusammenlebens durchzuführen, wie es im Schulprogramm festgelegt ist (vgl. Pollert 2002).
In der Regel findet in meiner Klasse einmal wöchentlich am Montag um 8.45 Uhr eine Klassenrat-Sitzung statt. Neben der Problembesprechung gehört die Verteilung der teilweise wöchentlich wechselnden Klassen-“ Dienste“ in unseren Klassenrat. Außerdem verschaffen wir uns einen kurzen Überblick über die Vorhaben der kommenden Woche. Zusätzliche Sitzungen aus besonderen Anlässen (z.B. wegen eines schweren Zwischenfalls) können einberufen werden.

Wenn Kinder etwas im Klassenrat besprechen wollen, schreiben oder malen sie dazu in das „Klassenrat-Buch“ , das zu diesem Zweck jederzeit genommen werden darf. Dies stört den Unterricht nicht, im Gegenteil: das akute Problem hat ein Ventil gefunden und das Kind kann sich nach dem Aufschreiben meist besser auf den Unterricht konzentrieren („Störungen haben Vorrang“ ). Die Lehrerin sichert dem Kind zu, dass sein Problem im Klassenrat geklärt werden kann. Die Kinder wissen aus Erfahrung, dass ihre Angelegenheiten sehr ernst genommen werden. Das Eintragen ins Klassenrat-Buch nutzen viele Kinder; manche werden zuweilen von den pädagogischen Mitarbeitern darauf hingewiesen, dass sie ihr Problem eintragen könnten; ein Erwachsener oder ein Kind kann dabei behilflich sein.
Die meisten Klassenrat-Sitzungen haben bei uns folgende vier Elemente:

  1. Aufwärmen
  2. Wochenüberblick
  3. Problembearbeitung
  4.  „Dienste“-Verteilung

Element I: Aufwärmen
Zu Beginn des Klassenrats ist es sinnvoll, dass sich die Kinder für die nun folgende Beschäftigung mit emotionalen Inhalten „aufwärmen“ , sie sollen „ankommen“ . Die nichtsprachliche Form über das Zuordnen eines Plättchens zu entsprechenden Gesichts-Karten ermöglicht jedem Kind, die eigene Befindlichkeit im „Hier und Jetzt“ (z.B. traurig, wütend, müde, fröhlich, zufrieden) wahrzunehmen. Zugleich bekomme ich einen Überblick über die derzeitige Gefühlslage der Kinder, um besonders auffälligen Kindern Aufmerksamkeit geben zu können. Eine Alternative dazu ist die im Alltag bei uns oft praktizierte Gesprächsrunde mit der Frage: „Was hat mir heute gut gefallen“ (vgl. Kiper, 1997, dort wird von „positiven Runden“ gesprochen).

Element II: Wochenüberblick
Ein weiterer Bestandteil unseres Klassenrats ist der kurze Blick auf die kommende Woche: Was haben wir uns vorgenommen? Welche Projektarbeiten finden an welchem Tag statt? Gibt es besonders zu kennzeichnende Termine? Um welche Uhrzeit fährt der Bus zum Schwimmen? Wann kommt ein Besuch? An der Seitentafel sind die Wochentage und Tageszeiten gekennzeichnet und die einzelnen Vorhaben werden auf dem für alle sichtbaren Terminplan eingetragen. In der vorhandenen Zeit kann jedoch kein Thema genau diskutiert werden, dafür haben bereits vorher – falls erforderlich mehrmals – gemeinsame Planungen stattgefunden. Immer wieder erfahre ich von den Kindern, dass diese Offenlegung aller Planungen eine Sicherheit verschafft, die Konflikte vermeiden hilft. Zugleich bildet ein solcher Plan der Woche eine entscheidende Basis für die Mitbestimmung der Schüler.

Der Wochenüberblick findet in einer fröhlichen, erwartungsvollen Stimmung statt. Er bereitet nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz auf die Woche vor. Er vereint die Kinder zu einer Klassengemeinschaft, die das Zusammenleben gestaltet.

Element III: Problembearbeitung
Das Gespräch über zwischenmenschliche Konflikte steht erfahrungsgemäß im Mittelpunkt des Klassenrats. Die Themen jedes Gesprächs bestimmen die Kinder selber, indem sie ihr Anliegen in das Klassenrat-Buch eintragen. Da viele Probleme auch andere Kinder betreffen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Klasse bei der Besprechung aufmerksam ist.

unächst ist Klarheit über das angesprochene Problem zu gewinnen. Da ein Problem aus vielen Blickwinkeln gesehen werden kann, muss jede Konfliktseite ausführlich ihre Sichtweise darstellen können. Dabei lebe ich durch mein Verhalten als Gesprächsleiter vor, wie Achtung vor den Gefühlen der beteiligten Kinder möglich ist. Moralische Ermahnungen, Verurteilungen oder die Bloßstellung eines Kindes gehören nicht in den Klassenrat, da sie die Bereitschaft zur Mitgestaltung der Gemeinschaft schmälern. Ich sorge für eine Atmosphäre, in der Angst reduziert und kreative Lösungen gefunden werden können. Nach meinen Erfahrungen lösen die Kinder die meisten Probleme alleine dadurch, dass ein genaues Verstehen der anderen Seite ermöglicht wird. Wenn z.B. etwas „aus Versehen“ und „nicht extra“ gemacht wurde, ist die Erkenntnis dessen bereits so konfliktmindernd, dass ein Zeichen genügt, dass es „leid tut“ , so etwas gemacht zu haben.
Äußerst selten will ein Kind nicht über ein Problem sprechen. Dann biete ich ihm an, bei anderer Gelegenheit, vielleicht auch im Einzelgespräch oder in der Kleingruppe darüber zu sprechen.

Um eine professionelle Distanz behalten zu können, mache ich die Probleme der Kinder nicht zu meinen. Den wichtigen Hinweis von Thomas Gordon „Wer besitzt das Problem?“ habe ich im Sinne hilfreicher Gesprächsführung weitgehend verinnerlicht.

Grundsätzlich gibt es bei uns keine „längst vergessenen“ Probleme oder „Kleinigkeiten“ , die es nicht zu besprechen lohnt. Wenn jedoch ein Kind sehr häufig ins Klassenrat-Buch schreibt, wird zuweilen auf das Lesen dieser Eintragungen verzichtet, und das Kind kommt zu Wort. Durch das Eingehen auf seine Problemlage (z.B. kein Freund, häusliche Belastungen) können manche Konflikte im Vorfeld entschärft werden (vgl. Fuest 1990; Kiper 1997).

Handelt es sich um Schwierigkeiten, die alleine durch das gegenseitige Verstehen nicht zu beheben sind, müssen Problemlösungen gesucht werden, bei denen ein Konsens erzielt werden sollte. Sie werden meist als Beschluss im Klassenrat-Buch notiert und in der nächsten Klassenrat-Sitzung erneut angesprochen, um zu prüfen, ob sich die Beteiligten an die Absprachen gehalten haben. Falls nicht, muss das Problem neu bedacht werden.

Nicht immer lassen sich einfache Lösungen finden. Nach meinen Erfahrungen hilft der Hinweis, dass auch ich als Erwachsener nicht weiter weiß. Oft nehmen wir uns dann eine Bedenkzeit bis zum nächsten Klassenrat.

Das Überwinden von Schwierigkeiten ist eines der bedeutendsten Gefühle in dieser Phase des Klassenrats. Es entsteht in der Gruppe ein Selbstbewusstsein und eine Zuversicht, die anstehenden Aufgaben und die dabei entstehenden Probleme meistern zu können.

Element IV: „Dienste“-Verteilung
Kinder möchten einen bemerkenswerten Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, jede Aufgabe, die Kinder selbstständig bewältigen können, sobald wie möglich – am besten in den ersten Schulmonaten – an sie abzutreten. Wenn das verantwortliche Kind ganz sicher weiß, dass kein anderer für diese Aufgabe zuständig ist, sie also auch nicht machen darf, dann wird ein Dienst gewissenhaft erledigt. Indem die Kinder merken, dass sie mit ihrem „Dienst“ einen unersetzbaren Beitrag für die Klassengemeinschaft leisten, wächst ihr Selbstvertrauen und die Freude an der Arbeit.

Zu unserem Klassenrat gehört nicht nur die Lösung von Problemen, sondern auch die Verteilung von „Diensten“ oder „Revieren“ unter den Kindern. Damit das Leben in der Klassengemeinschaft funktionieren kann, versuche ich zu erreichen, dass zu den unvorhersehbaren alltäglich Problemen der Kindern nicht noch hausgemachte, strukturelle Konflikte hinzu kommen. Wenn z.B. die tägliche Schulmilch serviert werden soll, muss für alle transparent sein, wer „Milchdienst“ ist und was dieser tut. Er ist eigenverantwortlich für seine Aufgabe zuständig. Tiere und Pflanzen werden täglich von den entsprechenden Diensten versorgt. Die Kinder empfinden den Dienst als ihr Revier, in das sich laut Klassenregel kein anderes Kind einmischen darf.

Die „Dienste“ werden freiwillig gemacht, kein Kind wird z. B. gezwungen, die Tafel zu putzen. Dies erledigen die zuständigen Kinder. Wenn sie den „Dienst abgeben“ wollen, fragen sie im Klassenrat, wer die Aufgabe in der nächsten Woche übernehmen will. Sie bestimmen dann ihre „Nachfolger“ selbst, manchmal sogar mit der Einschränkung, dass sie den „Dienst“ nur für eine Woche abgeben wollen. Es gibt in der Regel keine Probleme, einen „Nachfolger“ zu finden. Wenn jedoch niemand zu finden wäre, der z. B. das Pausenspielzeug nach draußen bringt, gäbe es in dieser Woche konsequenterweise kein Pausenspielzeug (es ist nicht das Problem des Lehrers, vgl. Gordon, S. 44ff).

Die genannten vier Elemente unseres Klassenrats betreffen die Gefühle der Kinder, das Mitdenken beim Planen einer Woche, das Lösen von Schwierigkeiten und das Übernehmen von Aufgaben für die Klassengemeinschaft. Die Führung einer Klasse – übrigens ein wichtiger Faktor für gute Unterrichtsqualität (vgl. Stähling 2000) – wird durch diese Elemente erleichtert. Somit können wir festhalten, dass die Wirksamkeit des Klassenrats weit über den Aspekt demokratischen Lernens hinaus reicht: Klassenrat ist Voraussetzung für einen effizienten Unterricht, der sowohl Schülern, als auch Lehrern den Arbeitsplatz angenehm macht.
Dass die Demokratie in einer reformpädagogischen Kinderschule nicht an der Klassentür endet, versteht sich von selbst. Klassensprecherwahlen und die Versammlung der Klassensprecher zum Schülerrat sind weitere Bausteine einer demokratisch verfassten Schule. Stichworte wie „Kinder-konferenz“ (vgl. Claussen 1999) und „Konfliktausschuss“ (vgl. Held 1997) deuten die Spanne an, in der heute Anregungen der Reformpädagogen aus den zwanziger Jahren aufgegriffen und umgesetzt werden.
Die Bildungskommission NRW entfaltet eine Vision von der Schule der Zukunft unter dem Bild „Haus des Lernens“ (vgl. Bildungskommission, 1995, S.77ff). Schule wird dort in reformpädagogischer Tradition als „Lern- und Lebensraum“ beschrieben, in dem Verantwortung (S. 81) und Toleranz, soziales und demokratisches Verhalten (S.84) als Basis des Zusammenlebens gelernt wird. Kinder benötigen stabile Beziehungen, damit sie sich in der Schule wohlfühlen können, emotionale Sicherheit gewinnen und Vertrauen zu sich und anderen entwickeln können (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S.84).
In heutigen deutschen Grundschulen, besonders aber in weiterführenden Schulen findet man noch viel zu selten Klassenrat (Friedrich & Kleinert 1997), Lehrer-Schüler-Konferenzen (vgl. Fischer 1997) oder „Kummerlöser“ (vgl. Held 1997). Die Freude am Lernen und die Mitbestimmung der Schüler bleiben auf der Strecke (vgl. Stähling 2002 b; 2003).
Demokratie ist – frei nach Karl Valentin – schön, macht aber viel Arbeit. Die Erfahrungen der Just-Community-Schulen zeigen, dass auch die mit Kindern gemeinsam entwickelten Regeln des Zusammenlebens nach einigen Jahren in ihrer Wirkung nachlassen. Alle zwei bis drei Jahre ist das Regelwerk einer Gemeinschaft der Gefahr der Stagnation ausgesetzt (vgl. Oser 1988). Wir müssen die Beteiligung aller Kinder an den Fragen des Zusammenlebens in der Schule aktiv und regelmäßig lebendig halten. Die Einrichtung des Klassenrats ist ein unverzichtbarer Bestandteil dieses „Frischhalte-“Prozesses.

Literatur:
Bergk, Marion 2002: Streitkultur statt Gewalt. In: Grundschulunterricht 49. Jg., H. 1, S. 9–19, 2002
Bildungskommission NRW 1995: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Berlin: Luchterhand 1995
Claussen, Claus 1999: Die Kinderkonferenz. In: Grundschule 31. Jg., H. 10, S. 30–31, 1999
Dreikurs, Rudolf, Grunwald, Bronia & Pepper, Floy : Lehrer und Schüler lösen Disziplinprobleme. Herausgegeben von H.J. Tymister. Weinheim: Beltz, 1987
Fischer, Jens: Konflikte im Schulalltag. Handlungsstrategien zur gemeinsamen Konfliktbewältigung. In: Praxis Schule 5–10, 8. Jg., H. 1, S. 20–23, 1997
Flissikowski, Simone: Der Klassenrat: Ein praxisorientiertes Konzept für den Umgang mit Konflikten in der Grundschule. In: Itze, Ulrike; Ulonska, Herbert; Bartsch, Christiane (Hrsg.) Problemsituationen in der Grundschule. (S.290–307). Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2002
Fuest, Adeltraut: Der „Klassenrat“ im Kontext schulischer Lehr-Lernprozesse. In: Tymister, H. J. (Hrsg.), Beiträge zur Individualpsychologie 13. Individualpsychologische Beratung München: Reinhardt, S. 48–68, 1990
Friedrich, Annerose & Kleinert, Irmhild: Der Klassenrat. Demokratie lernt man am besten von Anfang an. In: Praxis Schule 5–10, 8. Jg., H. 5 , S. 30–31, 1997
Gordon, Thomas: Lehrer-Schüler-Konferenz. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1977
Grabbe, Beate: Der Klassenrat. Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern. In: Grundschule, 24. Jg., H. 3, S. 53–55, 1992
Held, Peter 1997: Die Kummerlöser. In: Pädagogik, 49. Jg., H. 10, S. 16–21, 1997
Hentig, Hartmut von: Die Schule neu denken. München: Hanser, 1993
Kiper, Hanna: Selbst- und Mitbestimmung in der Schule: Das Beispiel Klassenrat. Baltmannsweiler: Schneider, 1997
Kiper, Hanna: Kinder üben den qualifizierten Umgang miteinander, die Arbeit im Klassenrat. In: Grundschule, 31. Jg., H. 11, S. 24–26, 1999
Kiper, Hanna: Mitbestimmen lernen im und durch den Klassenrat. In: Palentien, Christian & Hurrelmann, Klaus (Hrsg): Schülerdemokratie – Mitbestimmung in der Schule. München, Luchterhand, S. 192–210, 2003
Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen: Vandenhoeck, 1967
Krall, Hannes: Eine Schülerin zwischen Aggression und Teilnahmslosigkeit. In: Journal für Schulentwicklung, H. 4, S.68–79, 1999
Meyer, Meinert: Problemlösendes Lernen in der Pädagogik John Deweys. In: Pädagogik , 51.Jg., H. 10, S. 29–32, 1999
Oser, Fritz 1988: Die gerechte Gemeinschaft und die Demokratisierung der Schulwelt: Der Kohlberg-Ansatz, eine Herausforderung für die Erziehung. In: Vierteljahreszeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik, H. 1. S. 59–79, 1988
Pollert, Manfred: Lernen und leben im 1. Schuljahr. Berlin: Cornelsen, 2002
Post-Lange, Eva: Klassenrat: Ich fand gut, dass … In: Unterrichten, erziehen, 19. Jg., H. 2, S. 97–99, 2000
Spiess, Reinhard: Klassenrat. Ein fruchtbarer Unterrichtsersatz? In: Pädagogik, 45. Jg., H. 12, S. 26–28, 1993
Stähling, Reinhard: Unterrichtsqualität und Disziplin. In: Grundschule, 32. Jg., H. 2, S. 20–22, 2000
Stähling, Reinhard: Klassenrat oder das Recht des Kindes auf Achtung. Videofilm. Universität Münster. Zentrum für Wissenschaft und Praxis. Abteilung für Audiovisuelle Medien. 2001
Stähling, Reinhard: Unter westfälischen Eichen. Kelkheim: Ilma, 2002a
Stähling, Reinhard: „Ein wie feines Modell im Kleinen“ – Über Merkwürdigkeiten beim Schulwechsel nach Klasse 4. In: Die Deutsche Schule, 94. Jg., H. 1, S. 61–66, 2002b
Stähling, Reinhard: „Für das Leben lernen“ – Reformpädagogik als Antwort auf PISA. In: Die Deutsche Schule, 94. Jg., H. 3, S. 295–299, 2002c
Stähling, Reinhard: Viertklässler beobachten Fünftklässler – Übergang zu weiterführenden Schulen. In: Grundschule, 35. Jg., H 4, 2003