Es ist möglich

Artikel im Heft 1/2009 der Zeitschrift „Grundschule“ (S. 22–25)

Der Umbau des Schulsystems in Kanada
BARBARA WENDERS IM GESPRÄCH MIT GORDON PORTER

Eine Schule für alle Kinder – in Kanada hat man dieses Ziel in vielen Provinzen schon erreicht. Der Schulinspektor Gordon Porter ist Initiator dieser Entwicklung und liefert den ermutigenden Beweis, dass sich auch von der Basis aus und entgegen aller Systemzwänge etwas bewegen lässt.

Gordon Porter gilt als einer der entscheidenden Initiatoren der Umgestaltung des kanadischen Schulsystems zur Inklusion.

BARBARA WENDERS: In der kanadischen Provinz New Brunswick gibt es seit den späten 1980er-Jahren keine Sonderschulen mehr. Gordon Porter, Sie sind der entscheidende Initiator dieses Umbaus. Erläutern Sie uns bitte die Veränderungsprozesse zur inklusiven Schule. Wie fing alles an?

GORDON PORTER: Als wir begannen, haben wir die „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedart“ mit ihren Sonderschullehrkräften in die allgemeine Schule „versetzt”, in eine spezielle Klasse. Wir nutzten das als Stützpunkt, um uns in Richtung „Integration“ zu bewegen, wie wir es damals nannten. Dann baten wir die lehrkräfte nach und nach, lernsituationen zu arrangieren, in denen die Kinder so viel Zeit wie möglich mit anderen Kindern verbringen konnten. Wir starteten ohne eine genaue Vorstellung, wie weit wir gehen könnten. So lief es erst mal und wir erörterten Schritt für Schritt, was möglich war und was gebraucht wurde. Wir führten Verhandlungen mit lehrerinnen und lehrern, indem wir ihnen Unterstützung zusicherten, wenn sie Kinder mit besonderem Förderbedarf in ihre Klasse aufnahmen. Es gab viele inoffizielle Kontrakte, die für einige Zeit galten. Und natürlich funktionierte das immer mit den lehrkräften, die positiv eingestellt waren und freiwillig helfen wollten. Das war also der erste Schritt Anfang der 1980er-Jahre.

WENDERS: Welche Kontrakte kamen zwischen Sonderschul und Regelschullehrern zustande?

PORTER: Zum Beispiel: „Wenn ich dir Max für diese eine Sportstunde in deine Klasse schicken darf, könnte ich dir vielleicht im Unterricht helfen oder dir einen Assistenten schicken. Oder ich könnte dir geeignetes lehrmaterial geben.“ Solche kleinen Absprachen jenseits des Dienstweges konnten hier und dort Erfolge zeigen und dafür sorgen, dass Kinder mit besonderem Förderbedarf in Regelklassen gingen, ohne dass dies von oben angeordnet werden musste. Und als es immer mehr beispielhafte Fälle gab und wir erkannten, was möglich war, begannen wir immer mehr zu drängen. Nach ein bis zwei Jahren gab es viele Veränderungen an den Schulen. Die ehemaligen Sonderschüler waren einbezogen in unterschiedlichste Klassen und Aktivitäten, und wir waren zuversichtlich. Es wurde nun sogar beschlossen, die Spezialklassen, in denen die Kinder so viel wie möglich integriert wurden, aufzulösen, sie alle gemeinsam in Regelklassen zu unterrichten und nur bei Bedarf zeitweise zu trennen. Und so „tauschten“ wir. Wir änderten unsere Grundsätze in dem Bezirk.

WENDERS: Gab es viele Hindernisse?

PORTER: Solange man nur mit den lehrerinnen und lehrernverhandelte, die freiwillig mitmachten, gab es keine Probleme. Aber sobald man anfing, möglichst viele lehrkräfte einzubeziehen, gab es etliche Widerstände. Viele hatten kein Vertrauen und fragten skeptisch, ob es für die Kinder das Richtige sei. Deshalb mussten wir viel diskutieren und viele Absprachen treffen, durch die sie sich ermutigt fühlten. Die Unterstützungsund Sonderschullehrkräfte wurden zu Integrationslehrerinnen und -lehrern, die den übrigen lehrkräften bei ihren Anforderungen halfen. Ein Hindernis war die Haltung der Schulleitungen. Einige von ihnen fühlten sich belästigt und hatten Vorbehalte. Es galt also, den Führungspersonen klar zu machen, dass es ihr Amt war, die leitung bei dieser Initiative zu übernehmen.

WENDERS: Waren schließlich die meisten mit den Änderungen einverstanden?

PORTER: Nein. Selbstverständlich befürworteten viele die Sonderpädagogik und abgetrennte Sonderschulen. und tatsächlich war es eine große Herausforderung, den Leuten verständlich zu machen, dass Menschen, die nicht lesen, schreiben oder rechnen lernen, Bildungserfahrungen brauchen, die möglicherweise weniger akademisch sind. Bildung kann soziale Verständigung, Aufbau der Selbstachtung oder der Alltagsfähigkeiten sein, aber es ist Bildung und gehört damit in eine Bildungseinrichtung, nämlich in die Schule. Und die allgemeine wohnortnahe Schulerziehung ist der Weg, wie wir unsere Kinder zu Bürgern erziehen. Gesetze zu machen, die für einige gelten und für andere nicht, ist das Gegenteil der Idee von gleichen Rechten und Demokratie.

WENDERS: Gab es dafür Unterstützung von der Schulbehörde?

PORTER: Nein. Nun, wir mussten ein wenig Unterstützung haben, um zu beginnen. Aber es war sicherlich keine einheitliche Hilfe. Einerseits hatten wir offizielle Unterstützung von ganz oben, aber es gab viele Schulleitungen oder Personen aus der Schulaufsicht, die uns nicht unterstützten. Und es gab sicherlich keinen Konsens. Viele waren auch resistent und negativ. Darum ist es so wichtig rechtzeitig Beispiele zu geben mithilfe von Menschen, die engagiert und bereit sind. Mit diesen Belegen kann man sich an die Kritiker wenden und sagen: „Ich verstehe das Problem nicht. Die anderen sind in der Lage, es in der Schule umzusetzen. Warum schafft ihr es hier nicht? Sind eure Lehrerinnen und Lehrer weniger kompetent? Bist du nicht so überzeugend, wie die Schulleitungen in den erfolgreichen Schulen? Was ist der Grund dafür?“

WENDERS: Wie haben Sie Lehrerinnen und Lehrer gewonnen?

PORTER: Wir fanden immer genug Beispiele, die belegten, dass es funktionieren kann und sorgten dafür, dass sich die Erfolge herumsprachen, sowohl unter den Schulleitungen als auch unter den Lehrkräften. Wir gaben denen, die erfolgreich waren, die eine Integration langsam erproben und dann selbst ausgestalten konnten. So hat man über den schrittweisen Ausbau des gemeinsamen Unterrichts ein System geschaffen, das für Deutschland beispielhaft sein kann. Möglichkeit, ihre Botschaft zu verbreiten und an ihresgleichen weiterzugeben. Wenn man Menschen findet, die beispielhaft handeln und Ansehen bei ihren Kollegen genießen, sollte man sie in eine Führungsrolle setzten. Denn dann ist es sehr schwer für andere, sich quer zu stellen und zu sagen, es ist unmöglich. Wie kann ich sagen, es ist unmöglich, wenn ein anderer es tut und sagt, es ist möglich?

SCHNELL GELESEN
In einigen Provinzen Kanadas wurde das Sonderschulsystem erfolgreich abgeschafft. Entscheidend auf diesem Weg war, dass die Regelschullehrerinnen und -lehrer mit Unterstützung der Sonderpädagogen die Handlungsmäglichkeiten für Grundschule 1-2009 Während Deutschland eine erschreckend niedrige Integrationsquote aufweist, bringen diese kanadischen Schulbusse wirklich alle Kinder in dieselbe Schule.

LITERATUR Stähling, R./Wenders, B.: Ungehorsam im Schuldienst. Hohengehren 2009 (in Vorbereitung; der Band wird ein ausführliches Interview mit Gordon Porter enthalten).

IM INTERNET www.inclusiveeducation.ca