„Für das Leben lernen“

Reformpädagogik als Antwort auf PISA

Artikel im Heft 3/2002 der Zeitschrift Die Deutsche Schule,
Zeitung für Erziehungswissenschaften, Bildungspolitik und pädagogische Praxis

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat mit der PISA-Studie die Lebenstüchtigkeit oder Grundbildung („literacy“) von 15-Jährigen in 32 Nationen gemessen. Im Mittelpunkt der Erhebung stand „derjenige Grundbestand von Wissen und Kompetenzen, der Grundlage ist, sich auch mit neuen Entwicklungen wissenschaftlicher, technologischer und gesellschaftlicher Art produktiv auseinander setzen zu können” (Boenicke 2000, S. 396).
Die Testergebnisse deutscher Schüler sind erschreckend. Deutschland hat nach Mexiko den stärksten sozialen Gradienten: Die Grundbildung oder Lebenstüchtigkeit („literacy“) ist überdurchschnittlich stark abhängig von Herkunft und Umfeld der Schüler. Deutsche Bildungsschranken scheinen immer noch unüberwindbar: 10 % der 15Jährigen können nicht lesen, weitere 13 % können aus altersgemäßen Texten nur die elementaren Inhalte entnehmen. Kurz: 23 % weisen eine unverantwortbar schwache Leistung im Lesen vor. Es gibt laut PISA kein Land, in dem die Jugendlichen so wenig Vergnügen am Lesen haben. Was wurde gemacht, um deutschen Schülern den Spaß zu nehmen?
Die Antwort ist hart: Es wurden offene Lernangebote und anregende Lernumgebungen als „Kuschelecken” verspottet und Lehrer als „faule Säcke” beleidigt. Diese öffentlich geschmähte Berufsgruppe wiederum schien zu glauben, dass Selektion der Lernentwicklung nütze: 24 % der 15-Jährigen haben eine Klasse wiederholt – damit ist Deutschland Weltspitze – aber offensichtlich ohne Erfolg. Und der Gipfel deutschen Schulalltags: 9 von 10 jugendlichen Analphabeten wurden von ihren Klassenlehrern nicht als solche identifiziert.
Die Konzeption der PISA-Studie basiert auf einer reformpädagogisch motivierten Vorstellung von Grundbildung (vgl. Boenicke 2000) und erfasst fächerübergreifende Problemlösekompetenzen. Reformpädagogische Bildungsprojekte werden aber – zumindest in Deutschland – allenfalls als Modellversuche gefördert. Sie sind im deutschen Bildungswesen nicht ausreichend verankert. Unsere 15-Jährigen konnten daher bei einem Schulleistungstest, der Problemlösekompetenzen, anwendungsbezogene Fähigkeiten, selbstreguliertes Lernen und Kooperationsfähigkeit ins Visier nimmt, nicht gut abgeschnitten haben. Das wussten viele Schulpraktiker auch vorher schon. Denn: Unsere Schüler bekommen noch immer „Stoff” in kleinen Lernhappen vorportioniert, im Gleichschritt, teelöffelweise eingeflößt, wie Selter (1998) in einer sehr gründlichen Analyse den gängigen Mathematik-Unterricht beschreibt. Leistungsfähige Schüler werden durch derartigen Unterricht so sehr gelangweilt, dass sie kaum messbare Lernzuwächse vorweisen, wie die Hamburger Studie zur Lernentwicklung (LAU 2001) in den Klassen 7 und 8 für Mathematik, Lesen und deutsche Sprache nachweist.
Die Interessen der Kinder und deren Wunsch nach Mitgestaltung werden in unseren Schulen meist vernachlässigt. Lieber züchtet man durch frühe Selektion Angst vor Misserfolgen. Das Bildungsverständnis in Deutschland ist weit entfernt von reformpädagogischen Ansätzen. „Grundbildung” (literacy), wie sie die PISA-Forscher verstehen, ist offenbar im deutschen Schulwesen nicht erreichbar. Unsere Schulprogramme und die Praxis des deutschen Schulalltags werden bereits durch die pädagogischen Vorstellungen der PISA-Forschungsgruppe grundlegend in Frage gestellt.

„Non scholae sed vitae discimus” – die 2000 Jahre alte Forderung „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir” wurde von den Reformpädagogen seit mehr als 100 Jahren so formuliert: Die Schule muss eine Lebensschule sein, mit allem was dazu gehört: Freude und Leid, lachen und weinen, verlieben, Wut, Nähe, Mitleid und Achtung voreinander. In einer solchen Atmosphäre wächst ein „Haus des Lernens“, in dem die Schüler und Lehrkräfte leisten können, weil es – man mag es schon gar nicht mehr sagen – Spaß bringt. Wenn Lebenstüchtigkeit ein Ziel ist, muss der Unterricht Lebensnähe bieten. Und in den Konsequenzen der Schulleistungsstudien liest man dasselbe, moderner formuliert: Die Schüler sollen sich im naturwissenschaftlichen, mathematischen und sprachlichen Unterricht mehr als bisher selbstständig und kreativ mit realistischen Problemstellungen auseinander setzen. Auch neuere reformpädagogische Konzepte der letzten 30 Jahre wie Offener Unterricht, Community Education, Alternativschulen, Reggiopädagogik sind im Kern mit klassischen Reformpädagogiken einig, wohin der Weg gehen soll (vgl. Göhlich 1997):

Lebensferne und Erlebnismangel des Unterrichts, Passivität der Schüler und Frontalunterricht sind zu verbannen, und dem Zeugnissystem und Schulversagen ist der Kampf anzusagen. Die klassische und neuere reformpädagogische Schulkritik bekommt nun Argumentationshilfen aus den Reihen empirischer Schulleistungsforscher.

Wieso hat eine Schule bessere Schulabgänger als eine andere?, fragten sich bereits in den 70er Jahren empirische Schulforscher (Rutter u.a., 1980) und kamen zu verblüffenden Ergebnissen: Geringe oder keine Effekte auf die Schulqualität zeigten die Schülerzahl, die Ausstattung, das soziale Umfeld, die Anzahl der Lernschwachen und Verhaltensauffälligen der untersuchten Schulen.

Sogar in sozialen Brennpunkten müssen Schülerleistungen nicht schlechter sein als anderswo, wenn die Schule Defizite durch ein schülerorientiertes Förderkonzept kompensieren kann (vgl. zur Praxis: Pollert 2002). Eine große Heterogenität der Schülerschaft verhindert nicht gute Schulabschlüsse einer Schule. Die PISA-Studie hat diese zwanzig Jahre alte Erkenntnis untermauert. Nicht einmal die Klassengröße steht in direktem Zusammenhang mit der gemessenen Schulleistung, wie PISA den erstaunten Lehrkräften vorrechnet.

In guten Schulen fanden Michael Rutter u.a. (1980) Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Leistungserwartungen klar formulierten, die sich bemühten gegenüber ihren Schülern gerecht zu sein, die den Schülern Teilverantwortung übertrugen, die im Lehrerzimmer locker miteinander kommunizierten, die einen Konsens über Regeln der Schule gefunden hatten.

Durch weitere Studien wurden diese Ergebnisse bis heute bestätigt. Besonders der mangelnde Konsens in einem Kollegium gilt inzwischen als Nährboden für „schlechten Unterricht“. In einer Schule, in der die Lehrer nicht einheitlich und konsequent handeln, wenn Schüler Getränkedosen auf den Boden werfen, wächst die Resignation und Konflikte werden auf dem Rücken der Schüler ausgetragen. Wenn Lehrer nicht spüren, dass sie auf Zustimmung im Kollegium stoßen und im Konfliktfall unterstützt werden, beschleicht manchen Pädagogen die Angst vor Elternkritik und sie verfallen in didaktisch nicht angemessenes Lehrerhandeln. Diese Probleme sind „hausgemacht“.

Ähnliches gilt für den Leistungsbereich: In einer Schule, in der kein Konsens herrscht über frühzeitige, präventive Maßnahmen zur Verhinderung von Schulversagen, geht wertvolle Förderzeit verloren, Lerndefizite verstärken sich und Schüler werden entmutigt. Wenn sowohl während elementarer Lernphasen in deutschen Kindergärten, Vorschulen und ersten Schuljahren als auch bei den Übergängen zu weiterführenden Schulen ein Kind erst nach zweijährigem Lernversagen geeignete Hilfen bekommt, ist folgende Frage erlaubt: Will oder kann man in diesen pädagogischen „ Anstalten” überhaupt ein Kind mit Lernschwierigkeiten fördern und dafür sorgen, dass es „ mitkommt“? Falls unser Bildungswesen – warum auch immer – gar nicht dazu fähig ist, „schwachen Schülern” z.B. das Lesen beizubringen und ihr Interesse an Büchern zu wecken (nach PISA sind das 23 % der 15-Jährigen), dann müssen wir uns nicht wundern, wenn Pädagogen mit einem offenbar „typisch deutschen” Argument auf ihre Schützlinge einknüppeln: „ Die gehören hier nicht hin! „Wenn der Konsens der Fachleute über die Förderkonzeption für „schwache Schüler” fehlt, wie sollen dann diese Kinder wieder Mut zum Lernen finden?

Die angesprochenen Defizite können keinem Verantwortlichen gleichgültig sein. Die Zeit drängt. Am meisten und schnellsten können die Pädagogen selbst die notwendigen Schritte unternehmen. Sie können die Anregungen der Reformpädagogen aufnehmen und in kleinen Schritten lernen, mit den Kindern und Jugendlichen das Leben und Lernen im Klassenraum zu gestalten. Nachhaltige Qualitätssteigerungen ergeben sich vermutlich dann, wenn sich die Mitarbeiter zusammen mit Eltern und Schülern über Ziele und Wege verständigen können. Die dazu notwendige Unterstützung können externe Berater wie Supervisoren, Fortbildungsmoderatoren oder wissenschaftliche Begleiter anbieten.

Völlig unterschiedlich arbeitende Schulen, die in ihren Zielvorstellungen unvereinbar sind, können gute Schulen sein. Die Schulqualitätsforschung hat aufgezeigt, dass es weniger wichtig ist, welche Regeln den Schulalltag bestimmen, vielmehr zählt, dass an einer Schule überhaupt konsensfähige Normen bestehen, für deren Einhaltung nachhaltig gesorgt wird.

Ein effizientes Regelsystem, wirksame Unterrichtsorganisation, Störungskontrolle und intensive Zeitnutzung leiten Schüler zum aufmerksamen Arbeiten an und sind Kennzeichen von guter Klassenführung (vgl. Stähling 2000).

Reformpädagogen wie John Dewey (1859 bis 1952), Celestin Freinet (1896 bis 1966) oder Alexander Neill (1883 bis 1973) stehen für sich teilweise widersprechende pädagogische Profile und zeigen die Vielzahl der Möglichkeiten, erfolgreiche Schul- und Erziehungsarbeit zu leisten.

Auch unter Reformpädagogen verschiedener internationaler Richtungen gab es kein einheitliches Vorgehen. Am Beispiel des selbstgesteuerten Lernens kann man sehen, wie weit die Konzepte der Reformpädagogen auseinander gingen. Wir wissen, dass Peter Petersen selten so etwas wie Freie Arbeit anbot, wohl aber altersgemischten Gruppen mit 3 bis 5 Kindern die Freiheit ließ, an einem selbst gewählten Thema in selbst gewähltem Arbeitstempo zu arbeiten, um die Ergebnisse schließlich anderen Kindern vorzustellen. Bei Maria Montessori dagegen war selbstgesteuertes Gruppenlernen selten. Sie bot jedem einzelnen Kind an, sich das ihm passende didaktische Material frei auszuwählen, aber der Umgang mit dem Material war festgelegt. Weder bei Petersen, noch bei Montessori wurde selbstgesteuertes Lernen mit Willkür gleichgesetzt. Darin waren sie sich einig.

Aus der Reformpädagogik und der Schulqualitätsforschung sind Konsequenzen zu ziehen: Es geht nicht um noch mehr Homogenität in den Klassen (darin sind deutsche Schulen sowieso Weltmeister!) oder eine „größere Standardisierung des Unterrichts“, wie die NRW-Schulministerin Behler nach PISA fordert. Solche hilflosen Versuche, die Schulleistungen zu verbessern, führen zu noch mehr Selektion und Schulversagern. Schulen können und sollen stattdessen unterschiedlich aussehen, so unterschiedlich wie die Reformpädagogen bereits erfolgreich in den zwanziger Jahren gearbeitet haben.

Viele innovative Schulen haben von den Reformpädagogen Konzepte und Lernformen übernommen und auf ihre Verhältnisse zugeschnitten (Beispiel: Grundschule im sozialen Brennpunkt, vgl. Pollert 2002). Warum schauen sich die Schulexperten nicht an, was dort heute anders gemacht wird als in deutschen Regelschulen? Nicht die Professoren mit ihren Studenten sollten dort in erster Linie hospitieren, sondern die Lehrerinnen und Lehrer, die mitten im Beruf stehen.

Interessant für die Praktiker ist vor allem der Vergleich von Schulen, die „innovativ“ und erfolgreich arbeiten. Eine Forschergruppe untersuchte 23 Innovationsprojekte aus 13 Ländern, die völlig unabhängig voneinander entwickelt wurden (vgl. Black/Atkin 1996). Diese Schulen zeigten überraschende Ähnlichkeiten. Die Übereinstimmungen bezogen sich auf folgende Bereiche (vgl. Boenicke 2000):

a) Curriculare Standards: Der Ausgangspunkt der Lehrpläne liegt nicht in der Logik der jeweiligen Fachwissenschaft, sondern – nach Berücksichtigung professioneller Erfahrungen von Lehrern – in der Anwendung und im Schülerinteresse.

b) Als Lehr- und Lernformen werden bevorzugt:

Individualisierung: Selbstständig Probleme angehen, die aus eigenen Kontextbezügen stammen

– Gruppenlernen: Die Gruppe bekommt mehr Bedeutung, Lehrer treten zurück

– Methodenkompetenz: Arbeitstechniken für das Gruppenlernen und eigenverantwortliche Lernen

– Leistungsrückmeldung: Ergebnispräsentation (verhindert Individualismus), Selbstkontrolle, Arbeitstagebuch

c) Veränderung der Rolle von Lehrenden und Lernenden: Schüler erlebend das Lernen als sinnvoll, die Pädagogen bauen ein neues Lernverständnis auf.

d) Kollegiale Zusammenarbeit: Zusammenarbeit der Pädagogen wird als notwendige Voraussetzung für Innovation gesehen. Die damit verbundene Zeitbelastung wird teilweise als Überforderung erlebt, führt aber auch aus der Isolation heraus.

Es wäre lohnenswert, solche erfolgreichen und sehr unterschiedlichen Schulen bei der Arbeit zu sehen, um von ihnen zu lernen. Dabei werden wir wohl auch die Frage zu beantworten haben, wieso die Kinder bei uns nur vier Jahre gemeinsam in die Schule gehen (vgl. Stähling 2002). PISA hat die Lehrerschaft daran erinnert, ihre reformpädagogischen Hausaufgaben nachzuholen.

Literatur
Black, Paul, J. Myron; Atkin 1996: Changing the Subject. Innovations in Science, Mathematics and Technology Education. London, New York
Boenicke, Rose 2000: PISA und die Suche nach einem internationalen Kerncurriculum. In: Die Deutsche Schule, 92, 4, S.393–406
Göhlich, Michael (Hg.) 1997: Offener Unterricht – Community Education – Alternativschulpädagogik – Reggiopädagogik. Neuere Reformpädagogiken. Geschichte, Konzeption, Praxis. Weinheim: Beltz
Pollert, Manfred 2002: Lernen und leben im 1. Schuljahr. Berlin: Comelsen
Rutter, Michael, B. Maughan, P. Mortimore, J. Ouston 1980: Fünfzehntausend Stunden. Schulen und ihre Wirkung auf die Kinder. Weinheim: Beltz
Scheibe, Wolfgang 1999: Die reformpädagogische Bewegung. 10. Aufl. Weinheim: Beltz
Selter, Christoph 1998: Ein Überblick über grundschulrelevante mathematische Forschung. In: Hans Brügelmann, Maria Fölling-Albers, Sigrun Richter (Hg.): Jahrbuch Grundschule, Seelze: Friedrich, S. 80–111
Stähling, Reinhard 2000: Unterrichtsqualität und Disziplin. In: Grundschule, 32, 2, S. 20–22
Stähling, Reinhard 2002: „Ein wie feines Modell im Kleinen“ – Über Merkwürdigkeiten beim Schulwechsel nach Klasse 4. In: Die Deutsche Schule, 94, 1, S.61–66
Reinhard Stähling, geb. 1956, Dr. paed., Grundschullehrer