Inklusion als Kernprogramm einer »Schule für alle«

Eine Grundschule wird zu einer Schule von 1–13

erschienen in PÄDAGOGIK 9/2013

Wie der Weg zur Inklusion von »unten« nach »oben« verlaufen kann, zeigt das Beispiel der Schule Berg Fidel. Nach mehrjähriger Erprobung soll das Konzept der Grundschule in altersgerechter Abwandlung bis zum Abitur weitergeführt werden. Die geplante Entwicklung mutet in ihrer Kühnheit fast visionär an. Aber die Schule lässt sich von Hindernissen nicht abschrecken …

Besser als Worte kann der Dokumentarfilm »Berg Fidel« (2011) zeigen, was »Inklusion« meinen könnte. Aus der Perspektive der Kinder schaut der Film auf das interkulturelle Leben rund um die Grundschule Berg Fidel in Münster. Einer Schule, die mitten in sozialen Brennpunkt liegt. In jeder Klasse hat ein Viertel der Kinder sonderpädagogischen Förderbedarf. Die Kinder kommen aus 30 Nationen. Die Regisseurin Hella Wenders hat mit ihrem preisgekrönten Werk die Phantasie von 33000 Zuschauern in ganz Deutschland beflügelt, sich eine Schule ohne Auslese vorzustellen.

Die Schulkonferenz beantragte 2010, dass die Pädagogen die seit zehn Jahren bereits erfolgreich praktizierte inklusive Arbeit (vgl. Stähling 2006) bis zum Schulabschluss aller Schüler fortsetzen dürften. Die Grundschule Berg Fidel und die benachbarte Geist-Hauptschule verstärkten ihre Kooperation. Die beiden Schulleiter traten mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, beide Schulen zu einer »Gemeinschaftsschule« zusammen zu legen und bis zum Schulabschluss auszubauen. Eine Elterninitiative gründete sich und verstärkte die politischen Aktivitäten. Nahezu alle sahen in dem Vorschlag einer Schule Berg Fidel von 1–13 eine gute Möglichkeit, dass auch benachteiligte Schüler höhere Bildungsabschlüsse erreichen könnten.

Das Ministerium griff den Vorstoß auf und bot an, in 15 Schulen »Primus«-Schulversuche (Primarstufe und Sekundarstufe zusammengelegt) zu genehmigen. Die dazu im Sommer 2012 vorgelegten ministeriellen Eckpunkte passten mit Ausnahme der Schulgröße (drei- statt zweizügig) und der Standortfrage (Primar- und Sekundarstufe an einem statt an zwei getrennten Standorten) zu dem Projekt »Berg Fidel 1–13«. Der Schulträger unterstützte aus finanziellen Gründen, dass diese beiden Eckpunkte kein Ausschlusskriterium bilden sollten. Allerdings begrenzte er die Schule auf die Jahrgänge 1 bis 10. Der Mehrheit im Stadtrat schien der Bedarf füreine weitere »Oberstufe« in Münster nicht gegeben zu sein. Die Schließung von Gymnasien drohte, während zugleich eine neue Gesamtschule aufgebaut wurde. Eine stadtweite Elternbefragung im März 2013 (mit einem relativ hohen Rücklauf von mehr als 30 %) zeigte, dass zu erwarten ist, dass zum Schuljahr 2014/15 genügend Eltern aus Münster ihr Kind sowohl ins erste als auch ins fünfte Schuljahr der Modellschule 1–10 einschulen werden.

Wie soll die angestrebte inklusive Schule 1–10 (später auch 13) aussehen?

Die neue Schule ist eine inklusive Modellschule, vergleichbar mit einer Gesamtschule ab Klasse 1, allerdings ohne jede Auslese der Schülerschaft. Die Pädagogen dieser Schule werden wissenschaftlich begleitet und finanziell und personell unterstützt.

  1. Alle Schülerinnen und Schüler lernen vom l. Schuljahr bis zu ihrem bestmöglichen Schulabschluss in einer Schule. Ein Schulwechsel nach Klasse 4 ist in der Regel nicht vorgesehen.
  2. Die neue Schule ermöglicht jedem Erfolge. Sitzenbleiben ist ausgeschlossen. Bis zum 8. Schuljahr gibt es keine Noten-, sondern Berichtszeugnisse.
  3. Die neue Schule ist eine Teamschule. Jede Klasse wird von einem Team von Lehrern, Sonderpädagogen und sozialpädagogischen Fachkräften geführt und unterrichtet. Praktikanten sind direkt in die Unterrichtsarbeit einbezogen. Einzelunterricht oder Anleitungen in Kleinstgruppen gehören zum Konzept der individuellen Förderung.
  4. Die neue Schule ist eine gebundene, rhythmisierte Ganztagsschule. Die Schülerinnen und Schüler bleiben an drei Tagen bis nachmittags in der Schule. An den zwei übrigen Tagen werden u. a. freiwillige Arbeitsgemeinschaften angeboten.
  5. Die neue Schule ist altersgemischt. In jeder Klasse sind Schülerinnen und Schüler verschiedener Jahrgänge:

Abb. 1 Jahresstruktur der Jahrgänge 7–9

Herausforderungen:
z. B. Theaterwochen, Radtour, Kanutour, Wanderungen, Alpen- Überquerung, Arbeiten auf dem Bauernhof, auf einer Berghütte, Renovierung eines Schullandheimes, Leben in fremder Familie mit Schulbesuch, Auslandsreise Drei bis vier Wochen
Die Herausforderungen orientieren sich in ihrer didaktischen Ausgestaltung an den zu lösenden Schlüsselproblemen. Schüler wählen sich die passenden Herausforderungen aus einem Angebot aus, mit schriftlicher Bewerbung und Begründung. Eine Jury ausSchülern, Eltern, Lehrern stellt Gruppen zusammen. Die Leitung übernimmt ein Erwachsener (Mitarbeiterin oder Mitarbeiteroder
Wissen und Können unter Beweis stellen Vier WochenFreie Forscher Clubs: alleine oder in Kleingruppe: Arbeiten an selbst gestellten Aufgaben, woran sie zeigen können, was sie gut können. Selbstreflexion in Logbuch. Seminararbeit, Präsentation
Berufs- und Sozialpraktika Zwei bis sechs WochenArbeitswelt kennenlernen
Pädagogisches Langzeitpraktikum in der Grundstufe (Jg. 1–4) oder in der Kita als Schul- oder Kita-Assistent beziehungsweise Sportassistent einem Team und einer Klasse oder Gruppe zugeordnet Einmal pro Woche über mindestens sechs MonatePraktikanten erfahren, dass sie gebraucht werden und ihre schulischen Fähigkeiten z. B. in Rechtschreibung, Mathematik oder FFC bereits nützlich sind.
  • Jahrgang 1–4 als Grundstufe (seit 2002 bewährt in der Grundschule Berg Fidel)
  • Jahrgang 5–6 als Eingangsstufe
  • Jahrgang 7–9 als Stufe der vielen Lernorte
  • Jahrgang 10–13 als Schulabschlussstufe

Jedes Jahr sollen 50 Schulanfänger in Berg Fidel aufgenommen werden, die bis zum Schulabschluss in der Schule bleiben wollen. In jeder Klasse lernen etwa vier bis sechs Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen aller Art. Die Schule ist eine inklusive Angebotsschule. Allen Kindern des nahen Umfeldes ist die Aufnahme garantiert: Eine Schüerschaft ohne Auslese, bisher eine Seltenheit in Deutschland.

Tagesablauf in der inklusiven Pilotschule

Die vorgesehene Tagesstruktur soll optimale Voraussetzungen für eine bestmögliche Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler schaffen:

  • Frühstück wird in der Zeit zwischen 7.00 und 8.00 Uhr für alle angeboten.
  • Freies Arbeiten (8.00–9.30 Uhr) sichert das notwendige Training basaler Fertigkeiten.
  • Lern-Coaching (10.15–11.00 Uhr) ist die Zeit für Reflexion, Eintragung in das Lerntage buch, Beratung und Gespräche (z. B. »Lern-Klassenrat«).
  • Für Projekte, Intensivkurse und Freie Forscherclubs steht die Zeit von 11.00–13 .00 Uhr zur Verfügung. Projekte finden über sechs Wochen in der Klasse statt, Intensivkurse (z. B. English Conversation, Physik, Geschichte) und Freie Forscherclubs in selbst gewählten Gruppen.
  • Pausen (zwischen 9.30 und 10.15 und am Mittag von 13.00–14.30 Uhr mit gemeinsamer Mahlzeit in der Klasse) bieten Raum für gemeinsame und individuelle Tätigkeiten.
  • Die Werkstätten in der Zeit von 14.30–15.45 Uhr werden in der Grundschule für Klassen, später für jahrgangsübergreifende Wahlgruppen angeboten. Sie umfassen alle Bereiche unserer Kultur (Musik, Bewegung, Forschung/Technik/ Natur, Kunst/Darstellung, Gesellschaft/ Kultur, Fremdsprachen, Schülerfirmen) und werden von Experten betreut.
  • Eine Tagesabschlussrunde (15.45–16.00 Uhr) in den Werkstattgruppen beschließt den Schultag.
  • Für Freiwillige Angebote und Ateliers steht die Zeit nach 16.00 Uhr zur Verfügung. Abends finden Fortbildungen und kulturelle Veranstaltungen in der Schule statt.
Jahresstruktur der Stufe der vielen Lernorte: 7–9

Ein besonderer Schwerpunkt der Schule werden altersgerechte Lernangebote sein. Für Jugendliche im Pubertätsalter gibt es die »Stufe der vielen Lernorte«. Der Name ist Programm: Mehrere Wochen im Schuljahr findet kein üblicher Unterricht in der Schule statt. Vier Schwerpunkte sind für jeden jungen Menschen in jedem Jahr vorgesehen (siehe Abb. 1).

Struktur der Schulabschluss-Stufe: 10–13

Neben dem regulären Unterricht in der Klassengemeinschaft in Kern- und Wahlpflichtbereichen (freies Arbeiten, Projekte, Kurse, Werkstätten) sind für die Schülerinnen und Schüler der Schulabschluss-Stufe folgende Aktivitäten vorgesehen, die den Übergang in das Berufsleben oder ins Studium vorbereiten:

  • Ein Auslandsaufenthalt als Schulbesuch, als Berufspraktikum, als besondere Lernaufgabe: mindestens zwei Monate für alle, als Schüleraustausch.
  • Eine schulinterne Ausbildung zu Sportübungsleitern, Trainern, pädagogischen Mitarbeitern beziehungsweise zum Erzieher o. Ä. Und entsprechende Bewährung in der eigenen Schule bei jüngeren Schülern: pädagogische Langzeitpraktika als Unterrichtsassistenten, in Begleitung eines Kindes, als Assistenten der Schulsozialarbeiter und Sonderpädagogen.
  • Berufs- und Sozialpraktika: Beschäftigungswirksame Pädagogik des Übergangs in das Berufsleben.
  • Personenzentrierte Zukunftsplanung mit Aufbau von Unterstützerkreisen für jeden jungen Menschen nach Bedarf. Unterricht ist an den Lebenslagen jedes einzelnen orientiert.
  • Individuelle Lernberatung in allen Bereichen der Profilbildung, des eigenen Schulabschlusses, des Juniorstudiums. Coaching. Jugendliche können in Teildisziplinen Hochschulseminare besuchen.
  • Individuelle Schullaufbahnberatung über Anforderungen, Zeitpunkt und Form der Leistungserbringung und der Schulabschlüsse.
Ein zukunftsfähiges Modell?

Ein solches Lernverständnis von einerSchule ohne Auslese braucht auch schulorganisatorisch einen eigenen Rahmen. Wie sind die Lerngruppen zusammengesetzt? Welche Abschlüsse können wann erreicht werden?

Die Schule ist eine inklusive Angebotsschule. Allen Kindern des nahen Umfeldes ist die Aufnahme garantiert.

In der Grundschule Berg Fidel gibt es acht gebundene Ganztagsklassen à 24 Kinder, darunter ca. je sechs mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In der Eingangsstufe (Jg. 5/6) werden fünf jahrgangsgemischte Klassen à 20 gebildet. Die zehn Kinder des Jahrgangs 5 in jeder Klasse sind etwa wie folgt zusammengesetzt: Zwei mit Hauptschulempfehlung, je drei mit Realschul- und Gymnasialempfehlung, zwei mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf. In der Stufe der vielen Lernorte (Jg. 7–9) gibt es jahrgangsgemischte Klassen à 30 mit ähnlicher Zusammensetzung. Auch in der Schulabschluss-Stufe 10–13 lernen Schüler in altersgemischten Klassen und können Prüfungen nach Klasse 10, 12 oder 13 ablegen.

Um der Modell-Schule das notwendige pädagogische Programm geben zu können, veranstaltete die Elterninitiative und der Elternverein »mittendrin e. V.« aus Köln zusammen mit der Grundschule Berg Fidel im November 2012 einen Praxiskongress mit

dem Titel »Eine Schule für alle – Schule Berg Fidel 1–13«. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Hubert Hüppe übernahm die Schirmherrschaft.

An dem Kongress nahmen ca. 350 Schulpraktiker aus ganz Deutschland teil. Die Workshops wurden geleitet von ca. 50 namhaften Inklusionspädagogen wie Irmtraud Schnell, Jutta Schöler, Hans Wocken und Schulpraktikern aus der Sekundarstufe, die bereits Erfahrungen mit integrativer Arbeit mit brachen, wie z. B. aus der Sophie-Scholl-Schule in Gießen (vgl. Homepage der Grundschule Berg Fidel und Irmtraud Schnell, 2013, i. V.: Tagungsband zum Kongress).

Wie in Klassen mit »Gemeinsamem Unterricht« kooperativ gearbeitet werden kann, wurde seit Jahrzehnten erforscht. Aber welche Pädagogik für eine unausgelesene Schülerschaft gestaltet werden muss, so dass sich alle Kinder und Jugendlichen in einer guten Lernatmosphäre kognitiv und sozial-emotional über die Grundschule hinaus entwickeln können, stellt ein neues Forschungsterrain auf dem Gebiet der Inklusiven Pädagogik dar.

Es bleibt zu hoffen, dass diese Schule andere ermutigen wird, ohne jede Auslese jedes Kind des nahen Umfeldes aufzunehmen.

Literatur

Stähling, Reinhard (2011): »Du gehörst zu uns« – Inklusive Grundschule. Baltmannsweiler, 4. erw. Aufl. Stähling, Reinhard (2012): Die Schule Berg Fidel in Münster. Eine Schule für alle bis Klasse 13. In: Stähling, Reinhard/Wenders, Barbara (Hg.): Das können wir hier nicht leisten – Wie Grundschulen doch die Inklusion schaffen können. Praxisbuch zum Umbau des Unterrichts. Baltmannsweiler, S. 82–94

Wenders, Hella (2011/2013): Berg Fidel. Dokumentarfilm – DVD mit didaktischem Begleitmaterial. Stuttgart

Dr. Reinhard Stähling ist Schulleiter der Grundschule Berg Fidel.
Adresse: Hogenbergstr. 160, 48153 Münster
E-Mail: ggs-bergfidel@gmx.de
Internet: www.reinhard-staehling.de