Artikel im Heft 11/2008 der Zeitschrift Grundschule (S. 48–50)
Die ELEMENT-Studie von Rainer Lehmann wirft die Frage auf, ob leistungsstarke Schüler in heterogenen Lerngruppen angemessen gefördert werden können. Es gilt, Schulmodelle zu untersuchen, die eine große Heterogenität vorweisen und zugleich erfolgreich starke wie schwache Schüler fördern. Aus Erfahrungen in einer Brennpunktschule wird eine Perspektive inklusiver Pädagogik entwickelt.
Ein Teil der Berliner Schüler wird anstatt in der sechsjährigen Grundschule ab dem fünften Schuljahr in Gymnasien unterrichtet. Der Bildungsforscher Rainer Lehmann ist Verfasser der „ELEMENT“-Studie zum Lese- und Mathematikverständnis in den Jahrgangsstufen 4 bis 6, die das sechsjährige gemeinsame Lernen in Berliner Grundschulen vergleicht mit dem Lernen ab Klasse 5 in Gymnasien (LEHMANN/LENKEIT 2008). Die Ergebnisse wurden in der Öffentlichkeit vorab vielfach so interpretiert, dass der Eindruck entstehen konnte, das frühe Selektieren nach Klasse 4 habe keinen negativen Einfluss auf den Lernzuwachs in Mathematik und Lesen. Im Gegenteil: Alle Kinder, die in Berlin vorzeitig zum Gymnasium übergehen, lernten hier mehr als Altersgenossen mit vergleichbarer Lernausgangslage in Grundschulen.
Bei Deutungen der Daten wird so nicht selten (teils stillschweigend) vorausgesetzt, dass ein „gymnasiales Lernmilieu“ förderlich wirke. Die Hypothese lautet: Homogenere Leistungsgruppen auf hohem Niveau – in der Regel aus der Mittelschicht – bieten mehr Entwicklungspotenziale als heterogene Grundschulklassen, in denen Kinder verschiedener Herkunft und Kompetenzen gemeinsam lernen. Gegen diese Vermutung sprechen die vielfältigen Erfahrungen reformpädagogischer Schulen.
Diese Hypothese basiert auf einem häufig anzutreffenden Missverständnis und einer undifferenzierten Analyse. Homogene Lerngruppen, die für relativ kurze Lernzeiten zusammengesetzt werden, um eine optimale adaptive Unterrichtsgestaltung herzustellen, gibt es in jeder effektiv arbeitenden reformpädagogisch orientierten Schule mit offenem Unterricht. Die Effektivität homogener Lerngruppen ist in der Schulpraxis und empirischen Forschung unbestritten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Schulklasse oder sogar eine ganze Schulgemeinde homogen zusammengesetzt sein muss, um adaptive Lernsituationen einrichten zu können.
WACHSTUM FÜR ALLE
Eine Reihe reformpädagogischer und inklusiver Schulen in aller Welt zeigen, dass das Gegenteil zum Erfolg führen kann: Durch stark heterogene Klassen, deren Heterogenität sogar noch gezielt durch Altersmischung vergrößert wird, ist mehr Lebensnähe, aber auch mehr Adaptivität, individuelle Förderung und Schülerzentriertheit möglich.
Allerdings ist dabei zu bedenken, dass Heterogenität nur ein Struktur-, aber noch kein Qualitätsmerkmal darstellt. Um effektiv arbeiten zu können und Lernerfolge für alle zu ermöglichen, ist eine Atmosphäre von Achtung, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit und „Begleitung“ für die Lernprozesse besonders förderlich (vgl. STÄHLING 2006, S. 138 ff.). Meine Erfahrungen aus integrativem Unterricht zeigen, dass in einem solchen Lernklima auch lernstarke Schüler höhere Leistungen erbringen. Fehlen allerdings diese förderlichen Wachstumsbedingungen, so können Kinder und Lehrkräfte in stark heterogenen Lerngruppen (wie in vielen Grundschulen) sich überfordert fühlen und kein Vertrauen in ihre Entwicklungsmöglichkeiten sehen. Klassenwiederholung und Überweisung in Sonderschulen sind nicht selten die Folge.
Bedingungen
In der Grundschule Berg Fidel, einer Schule im sozialen Brennpunkt in Münster, sind selektive Elemente unseres Schulwesens, wie „Sitzenbleiben“ und Überweisung in die Sonderschule weitgehend abgeschafft worden. Dabei gelten folgende wachstumsfördernden Bedingungen:
- Zugehörigkeit: jedes Kind des Wohnbezirks gehört grundsätzlich in diese Schule vor Ort, natürlich auch behinderte Kinder aller Art.
- Achtung vor der Würde des Kindes erlaubt nicht, einem Kind keine Entwicklungsmöglichkeit in der Schulgemeinschaft zuzugestehen. Grundgesetzlich und im Sinne internationaler Kinderrechte hat jedes Kind einen Anspruch auf angemessene Förderung.
- Verlässlichkeit: Bezugspersonen jedes Kindes sind verlässliche Partner, die grundsätzlich ihre Hilfe anbieten. In altersgemischten Klassen werden die Jahrgänge 1 bis 4 gemeinsam unterrichtet. jeder Schulanfänger hat einen Paten, der in jeder lage unterstützen kann. In allen Klassen bilden die Pädagogen feste Teams aus Grundschullehrer, Sonderpädagoge und Hilfskräften, die über jahre stabil zusammenbleiben.
- Begleitung: Das Scheitern oder der Erfolg jedes Kindes wird ernst genommen, dokumentiert und nicht allein dem Kind zugeschrieben. Die Lernbedingungen werden so gestaltet, dass bei jeder Lernausgangslage immer ein Erfolg möglich sein kann. Misserfolge werden nicht zum Zweck der Aussonderung dokumentiert, sondern gelten als Hinweise, aus de nen ein Kind Mut schöpfen kann. In adaptiver Unterrichtsgestaltung bekommen besonders lernstarke Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen auf hohem Niveau passende Lernangebote. Starke Schüler nehmen außerdem an besonderen klassenübergreifenden Kursen in Mathematik, Deutsch und Sachunterricht teil.
Erfolge
Unter solchen Lernbedingungen können extrem heterogene Klassen die besten Wachstumsbedingungen schaffen. Auch lernstarke Schülerinnen und Schüler finden ideale Bedingunhgen, zum al sie keine Klasse „überspringen“ müssen und in dem Fall in einer neuen fremden Klasse weiterlernen müssten. In unserer Schule lernen einige Kinder bereits im ersten Schuljahr z. B. das Einmaleins zusammen mit anderen Kindern, die bereits im dritten Schuljahr sind. Nach drei Jahren wechseln sie auf das Gymnasium, ohne in der Grundschule unter- oder überfordert worden zu sein. Ebensolche Vorteile bietet die AItersmischung für lernschwache und verhaltensauffällige Schüler. Hier sind große Erfolge zu verzeichnen. An der Grundschule Berg Fidel werden auch nach der Grundschulzeit fast alle Kinder mit diesem „sonderpädagogischem Förderbedarf“ aus den altersgemischten Grundschulklasse auf die Regelschulen der Sekundarstufe überwiesen. Forschungen wären hier nötig, um diese Erfolge evaluieren zu können. Dagegen findet aus Sonderschulen für so genannte lernbehinderte Kinder nur selten ein Kind zurück in die Regelschule. Empirische Studien lassen starke Zweifel aufkommen, ob in diesen „Förderschulen“, die eben- falls vermeintlich homogene Lerngruppen bilden, überhaupt effektiv gefördert werden kann (vgl. WOCKEN 2007).
FORSCHUNGSBEDARF
Jürgen Baumert beklagt, dass es in Deutschland einen „eklatanten Mangel an grundlegenden Schulexperimenten“ gibt. Das Nicht-Erforschen z. B. reformpädagogischer Schulmodelle schränkt „unsere Einsichten in die mögliche Wirkung der Schule ein“ (BAUMERT 2008, S. 19). Baumert verweist auf Untersuchungen über die Laborschule Bielefeld, die eine „moderne“ und erfolgreich bildende Schule ist und bessere empirische Ergebnisse vorweisen kann als der Normalfall des aussondernden Schulwesens. jedoch fasst er seinen Bildungsbegriff und die Aufgaben der Schule eng. Nach Baumert (2008) ist die Schule damit beauftragt, „kognitive Basiskompetenzen“ zu vermitteln und „unverzichtbare Mindeststandards“ zu erreichen. Er bestimmt den Auftrag der Schule nicht daraus, was die Kinder lernen sollen, sondern aus der empirischen Datenbasis „wie Schulwissen weltweit strukturiert ist“.
Ein zeitloser Kanon?
Der hohe Respekt vor der PISA-Forschung ist zwar angebracht; aber aus den vorhandenen Daten empirischer Forschung zuverlässig ableiten zu wollen, wie in den Ländern der Welt die Schüler nach mehr oder weniger verbindlichen Lehrplänen erfolgreich lernen, ist noch Hypothese. Der vermeintlich empirisch ermittelte Status quo (so ist „moderne Schule“ nun mal) soll zum Ausgangspunkt für ein „universell“ verstandenes Kerncurri- culum umgedeutet werden. Was Baumert im Anschluss an solche vergleichende, „empirische“ Schulforschung mit einem Flair von Ewigkeitswert versieht, widerspricht den vielfältigen Praxiserfahrung mit lernprozessen im reformpädagogisch orientierten Unterricht. Er behauptet u. a. (BAUMERT 2008):
- Die „moderne“ Schule hat grundsätzlich einen „reflexiven Charakter“.
- Die Weltaneignung geschieht in den „modernen“ Schulen international auf ähnliche Weise und findet sich in einem „universellen“ Kanon von Fächern wieder.
- Die Wahl der Fächer kann den Schülern nicht frei gestellt werden, damit allen der „Zugang zu den unterschiedlichen Formen des WeItverstehens offen steht“.
- Nichtliterate Personen sind „systematisch von der Selbstbildung in der Auseinandersetzung mit den kulturellen Angeboten der Schule ausgeschlossen oder in ihr begrenzt“. Der Motivationsschwund der jugendlichen Schüler und der steile Abfall des Interesses an Englisch, Mathematik, Physik und Biologie mit wachsendem Schulalter ist Tatsache und nicht umkehrbar. „Nichts ist falscher als der Glaube, man könne die Jugendlichen zum lernen verführen, indem man nur den Unterricht anschaulicher macht und die Kinder und Jugendlichen in ihrer Alltagserfahrung abholt“.
- „Aus bildungstheoretischer Fürsorge wird die Teilnahme am Unterricht bis zur Oberstufe erzwungen.“
EIN GYMNASIALER GEIST
Pädagogische Denkweisen, die einen zeitlosen Fächerkanon bevorzugen, eine gehobene Sprache erwarten und den jugendlichen Schülern als nicht motiviert darstellen, sind im deutschen traditionellen Halbtagsschulwesen über hundert Jahre zur Hochkonjunktur gereift. Anstatt ein Haus des ganztägigen Lernens zu schaffen, hat man Halbtagsschulen errichtet, die für Kinder sogar eine gesundheitliche Gefahr darstellten. Zum Schutze der Kinder musste das Gesundheits wesen, die „Fürsorge“ oder „Jugendhilfe“ zur Hilfe gerufen werden. Nicht zuletzt war es notwendig, die so genannten behinderten Kinder vor einem System zu schützen, das – damals noch mit dem Rohrstock – buchstäblich krank machte. Die „Hilfsschulen“ mussten dafür sorgen, Humanität zu gewährleisten.
Ein gymnasialer deutscher Geist konnte sich etablieren. Die Selbstverständlichkeiten der „höheren Lehranstalten“ spuken noch heute in den Köpfen vieler Eltern und Lehrer. So könnte in Folge von Baumerts, aber auch Lehmanns Forschungen als empirisch belegt missverstanden werden, dass das, was deutsche Schulen in der Regel bieten, eine „Erfolgsgeschichte“ ist: die Dominanz ständigen „Beredens“ von Wirklichkeit anstelle des handelnden und lernmotivierenden Umgangs mit ihr. Ist nach diesen Überlegungen gymnasialer Unterricht besser für die Leistungsstarken? Oder belegt der zunehmende Trend, Privatschulen zu besuchen, die Skepsis vieler Eltern gegenüber der „Erfolgsgeschichte“ der Regelschulen, sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich?
DAS INKLUSIVE SCHULMODELL
Die vielfältig dokumentierten Erfahrungen handlungsorientierten Unterrichts, der die Interessen der Schüler ernst nimmt – angefangen bei der „Wohnstube“ von Heinrich Pestalozzi (1746–1827) bis zu SummerhilI von Alexander Neill (1883–1973) – dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Diese Erfahrungen aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen unbeachtet zu lassen, ist ne
ben dem von Baumert kritisierten Mangel an empirischer Forschung über Schulexperimente eine weitere Forschungslücke. Das inklusive Schulmodell, das die Förderung u. a. der Leistungsstarken in heterogenen Gruppen effektiv und nach den Qualitätsmerkmalen von Achtung, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit und Begleitung gestaltet, wäre zu erforschen. So zeigt die inklusive Schule in einigen kanadischen Provinzen seit Anfang der 1980er-Jahre, dass „multi-Ievel-instruction“ den Klassenlehrern entsprechendes Handwerkszeug zum erfolgreichen Unterrichten sehr heterogen zusammengesetzter Klassen an die Hand gibt (vgl. PORTER/RICHLER 1991; Arbeitsgruppe internationale Vergleichsstudie 2007).
Inklusive Schulexperimente könnten nach reformpädagogischen Erfahrungen in altersgemischten Klassen unter Einbeziehung von Fünfjährigen z. B. in vier Klassenstufen aufgebaut sein. Die entsprechende Schulstruktur einer solchen „inklusiven Gesamtschule“ wäre folgendermaßen denkbar:
- Klasse A: im Mittel 5–8 Jahre alt, Jahrgangsstufe 0, 1, 2, 3 als Eingangsstufe,
- Klasse B: im Mittel 9–11 Jahre alt, Jahrgangsstufe 4, 5, 6 als Unterstufe,
- Klasse C: im Mitteln 12–14 Jahre alt, Jahrgangsstufe 7, 8, 9: als Mittelstufe,
- Klasse D: Im Mittel 15–17 Jahre alt, Jahrgangsstufe 10, 11, 12 : als Oberstufe.
Alle Klassen befänden sich in einem „Haus des Lernens“ unter einer Leitung. In dieser inklusiven Schule würden besonders lernstarke Schüler nach Bedarf auch nur zwei Jahre in jeder Klassenstufe (A bis 0) lernen, sodass diese im extremsten Fall bereits nach viermal zwei jahren ihre Reifeprüfung erlangen könnten und mit frühestens 14 Jahren mit dem Studium begännen. Besonders langsam lernende Schüler würden in jeder Klassenstufe (A bis C) vier Jahre verbleiben und nach zwölf Jahren Schulbesuch, also mit 17 Jahren, ihren Schulabschluss bekommen.
WIR BRAUCHEN BEISPIELE AUS DER PRAXIS
Wenn wir mit Baumert erkannt haben, dass wir – u. a. aufgrund fehlender Feldforschung – wenig wissen über die Lernwirkung von Schule, dann liegt es in unserer Verantwortung, dies deutlich zu sagen. Wir können nach Auswertung vielfältiger Erfahrungen annehmen, dass lernstarke Schüler in inklusiven Schulen mit stark heterogenen, altersgemischten Lerngruppen besser abschneiden als auf Gymnasien.
Die Erziehungswissenschaft hat hier angesichts ihrer geringen Erkenntnislage bescheiden zu bleiben und nicht das selektive Schulwesen durch konservative Interpretationen empirischer Studien zu stützen. Vielmehr wäre wichtig, dass Schuladministration in Kooperation mit Wissenschaft solche skizzierten Schulexperimente fundamental unterstützt. Nur gute Beispiele aus der Praxis können zeigen, wie erfolgreich inklusive Schule mit stark heterogener Schüler schaft funktioniert.
Der Autor Dr. Reinhard Stähling ist Schulleiter der Grundschule Berg Fidel in Münster.
LITERATUR
Arbeitsgruppe Internationale Vergleichsstudie (Hrsg.): Schulleistung und Steuerung des Schulsystems im Bundesstaat. Kanada und Deutschland im vergleich. Münster 2007
Baumert, J.: Was soll man unter Bildung verstehen? In: Die Deutsche Schule, Heft 11 2008, S. 16–21
Lehmann, R./Lenkeit, J.: ELEMENT. Erhebung zum Lese- und Mathematikverständnis. Entwicklungen in den Jahrgangsstufen 4–6 in Berlin. 2008. Unter: http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-bildung/schulqualitaet/element6_bericht_ komplett.pdf
Porter, 6./Richler, D.: Changing Canadian Schools: Perspektives on Disability and Indusion. Toronto 1991
Stähling, R.: „Du gehörst zu uns“ – Inklusive Grundschule. Baltmannsweiler 2006
Wocken, H.: Fördert Förderschule? Eine empirische Rundreise durch Schulen für „optimale Förderung“. In: Demmer-Diekmann, I./Textor, A. (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. Bad Heilbrunn 2007, S. 35–59