Kinderinteressen – Schulinteressen: Ein Balanceakt

aus: Lehrer-Bücherei Grundschule
Fundgrube Klassenführung

Reinhold Christiani
Klaus Metzger (Hrsg.)

In unserem Stadtteil leben Kinder aus dreißig Nationen. Das zeigen schon die Außenwände der Grundschule. Sie sind bemalt mit bunten Bildern aus vielen Ländern: ein Ergebnis des Projekts „Unsere Schule soll schöner werden“, an dem alle Klassen beteiligt waren. Jedes Kind hat hier ein Zeichen hinterlassen. Ein bisschen staunen die Pädagogen selber, dass seit Jahren niemand mehr die Schulwände beschmiert. Die Kinder fühlen sich mit ihrer Schule verbunden. Der Stadtteil gilt als sozialer Brennpunkt. aber diese internationale Schule ist so etwas wie eine Insel, zu der man täglich übersetzt.

Die Kinder stehen im Mittelpunkt. So ist es nur logisch, dass sie. auch wöchentlich ein Forum in jeder Klasse haben: den Klassenrat. Aus jedem Klassenrat werden zwei Vertreter in den Schülerrat gesandt. Diese Versammlung der Klassensprecher tagt monatlich im Lehrerzimmer. Der Rektor leitet sie, wie das für ein bedeutendes Gremium (z. B. die Schulkonferenz) üblich ist. Heute steht der Vorschlag einiger Klassen auf der Tagesordnung, für die Kinder in der Pause einen Kiosk einzurichten. An diesem Verkaufsstand möchten Kinder selbstständig etwas zu essen verkaufen.

Eine gute Idee, finden einige Klassenlehrerinnen. Andere sagen dazu spontan: „Also Kaufladenspiel mit echtem Geld!“ Sofort kommen aber auch Bedenken auf, weil häufiger schon Geld verschwunden war. Viele meinen, es sei besser, kein Geld mit in die Schule zu bringen: „Wir hatten doch beschlossen, dass Kinder so selten wie möglich Geld mitbringen.“

In einigen Klassen haben die Lehrerinnen bereits eine sehr gemütliche Frühstücksatmosphäre entwickelt. Dort sorgen Platzdeckchen, Tischschmuck und Trinkbecher für eine gepflegte Esskultur. Würde man deren Arbeit nicht durch einen Kiosk untergraben, der Angebote für ein Frühstück draußen auf dem Schulhof machte? Essen während der Spielpause draußen war aus gutem Grunde verboten. Auch dies spricht gegen einen Kiosk zur Frühstücksverpflegung.

Andererseits kennen wir in allen Klassen Kinder, die selten gesundes Frühstück in die Schule mitbringen, weil sich zu Hause niemand darum kümmert. Könnte man diesen Kindern über den Kiosk ein gesundes Frühstück mit Obst und Gemüse anbieten? Im Interesse dieser Kinder hat sich die Schule erfolgreich beim Gesundheitsamt dafür eingesetzt, Unterstützung für das Schulfrühstück zu bekommen. Da kommt der Vorschlag der Klassensprecher, einen Kiosk einzurichten, gerade recht. Die Klassensprecher geben den Vorschlag zur Kioskgründung in alle Klassen. Dort soll er in den Klassenräten beraten werden.

Später beschließen die Klassensprecher im Schülerrat mehrheitlich, dass ein Kiosk eingerichtet werden soll.

Wie ist das nun zu bewerten? Sollen nun „über die Köpfe der Lehrkräfte hinweg“ die Schülerinnen und Schüler neue Regeln aufstellen können, Bewährtes außer Kraft setzen? Nein – in unserem Schulprogramm gilt der Grundsatz, alle sollen sich in der Schule wohl fühlen können – natürlich auch und nicht zuletzt die Erwachsenen. Können also auf der nächsten Mitarbeiterkonferenz die Beschlüsse des Schülerrates „gekippt“ werden? So etwas dürfte es in einer lebendigen Demokratie nicht geben.

Mir gehen spontan Schlagworte durch den Kopf wie „Demokratie wagen“, „Erfahrungen sammeln“ oder „Schule neu denken“. Alle Bedenken müssen gehört werden! Es gilt, einen Kompromiss auszuhandeln. der sowohl den Kindern mit ihrem Kioskwunsch als auch den Klassenlehrerinnen mit ihren Erfahrungen und Vorstellungen von Frühstückskultur gerecht wird.

Was wird also zu tun sein? Der nächste Schülerrat spricht über die Bedenken der Lehrerinnen, die auch schon in den Klassenräten ihre einflussreichen Stimmen erhoben haben. Könnten wir es nicht so einrichten, dass erst nach der Spielpause. also kurz vor der Frühstückspause. der Kiosk geöffnet wird? Die Kinder können dann für das Frühstück in der Klasse einkaufen: eine halbe Banane, Möhre oder Apfelstücke, Mandarinen. Trauben oder Nüsse. Nach langen Beratungen kommen die Klassensprecher auf die Idee. eine „Frühstückskarte“ mit vier Stempelaufdrucken für einen Euro zu verkaufen. Damit diese wertvolle Karte nicht verlorengeht. bleibt sie mit Namen versehen – im Kiosk und wird dort alphabetisch sortiert in einer Karteikiste leicht zu finden sein. Jeweils zwei Kinder machen den „Obstdienst“ . Sie stempeln die Frühstückskarte ab und geben das gewünschte Obst und Gemüse aus.

Der nachvollziehbare Wunsch einiger Kinder. einen Kiosk zu betreiben. stößt auf andere, ebenfalls nachvollziehbare Interessen einiger Lehrerinnen. Solche Interessengegensätze gibt es im Schulalltag häufiger; man denke nur an den komplexen Prozess der Regelfindung für die Pausen.

Die Diskussion um den Kiosk wird sicher weitergehen. Kann und soll man dort auch andere Dinge verkaufen? Könnte man den Gewinn für einen guten Zweck verwenden? Schon werden Kinderstimmen laut. die auch Süßigkeiten im Kiosk wünschen. Würden die Kinder aus ihrer Schule eine Schokoladenfabrik machen. wenn sie nur könnten? Schließen sich Schokolade und Gesundheitserziehung aus? Ich würde eigentlich gern Bonbons verkaufen lassen, nach deren Genuss man in allen Regenbogenfarben spucken kann. Welch ein Spaß in der Schule! In einer Aktionswoche könnte man sogar selbst gebackene Plätzchen verkaufen – wäre das nicht die Krönung eines Projekts in der Weihnachtszeit? Nebenbei lernen die Kinder auch noch den Umgang mit Geld. das Wirtschaften und Planen. Was sagen die Eltern dazu? Wie wäre es, wenn im Kiosk auch Sammelbilder zu kaufen wären?

„Aber diese Kinderinteressen kann man doch steuern“. höre ich schon erfahrene Kolleginnen sagen. Ja, man kann schon, aber ist es unsere Aufgabe. diese Wünsche zu „steuern“? Ich sehe keine schnelle Antwort auf all diese Fragen. Interessenkonflikte lassen sich nicht per Denkverbot. Erlass, Anordnung oder Erwachsenenbeschluss einfach vom Tisch fegen. Wo bliebe da der Lernprozess, den eine demokratisch orientierte Schule als Lebensraum bieten kann? Nach meinen Erfahrungen zeigen sich Kinder einsichtig und verständig, wenn die Erwachsenen ernst nehmen, was sie wünschen. Dann suchen Kinder nach allen möglichen Kompromissen, um möglichst viele Anliegen „unter einen Hut“ zu bekommen. Ich bin froh über eine demokratische Schule, in der solch ein Balanceakt im Interesse des gemeinsamen Lebens gelingt. Menschenbildung, demokratisches Lernen und Schulreform hängen unmittelbar zusammen und befruchten sich gegenseitig. Der Umbau der Schule braucht sehr viele dieser kleinen Lernschritte, um auf festem Fundament stehen zu können.