Klassenrat – das Einfache, das schwer zu machen ist – 7 Schritte gegen Gewalt

Artikel in Aprilausgabe 2005 der Zeitschrift Humane Schule

Sorgen und Nöte von Kindern in einer Grundschule hört man, wenn man nur die Ohren aufmacht.

  • A hat zu mir „fickdeinemutter“ gesagt
  • B hat mich getreten
  • C ärgert immer
  • D hat meinen Radiergummi weggenommen
  • E hat mich ohne Grund einfach geschubst
  • F will 1 E von mir haben, sonst haut er mich
  • G lacht mich aus
  • H hat zu mir gesagt „ich bin nicht mehr dein Freund“
  • I und J nehmen den Kleinen immer den Ball weg
  • K hat gesagt, das sein großer Bruder mich verhaut

So hören sich Probleme von Kindern an, die wir alle ernst nehmen sollten. Ob Nachbarn, Eltern oder Lehrer – jeder ist gefragt, den Kindern zu zeigen, dass Unrecht nicht ungehört verhallt. Was liegt näher, als darüber zu sprechen – mit den betroffenen Kindern. Aber wo sind sie? Wann ist Zeit dafür? Ist das nicht alleine Sache der Kinder? (Sonst verwöhnen wir sie doch!?) Hat die Schule nicht ein anderes „Kerngeschäft“? Muss die Schule sich überhaupt damit beschäftigen?

Die Antwort meiner Kolleginnen und Kollegen in der Grundschule Berg Fidel lautet: Ja, ohne jedes Wenn und Aber muss unsere Schule den Kindern in regelmäßigen, routinierten und ruhigen Gesprächen Zeit geben, sich aus dem Alltagsgeschehen zurückzuziehen. Dazu dient der Klassenrat. Hier können die Kinder viele soziale Auseinandersetzungen von Schulhof, Turnhalle, Klasse, Schulweg und Freizeit aufarbeiten.

Wie wollen wir „den Kindern das Wort geben“, wenn wir nicht bei ihren Sorgen und Nöten anfangen? Die Reformpädagogen der 20er-Jahre haben uns gezeigt, zu welchen (heute fast unvorstellbaren) Formen der Mitwirkung oder „Partizipation“ Kinder in der Lage sind (vgl. Stähling 2002).

Aber, so lauten gleich die Bedenken: Wie will man mit ihnen sprechen? Zanken die Kinder dann weiter und hören sich gar nicht zu? Wird nicht alles schlimmer, wenn man aus einer Mücke einen Elefanten macht? Gegenfrage-. Wer definiert denn, wie schwer ein Problem für ein Kind wirkt? Die Erwachsenen? Und wer entscheidet, bei welcher Schwierigkeit kein Gespräch nötig ist? Aus all den Überlegungen haben Pädagogen und Eltern unserer Schule eine Konsequenz gezogen. Die Schulkonferenz hat nach gründlicher Vorarbeit entschieden: Wir schauen bei Problemen nicht weg. In jeder Klasse findet einmal wöchentlich mit allen Kindern ein Klassenrat statt, in dem Sorgen der Kinderbesprochen werden (vgl. Pollert 2002; Stähling 2003).

Wer es uns nachmachen will, muss sieben Schritte gehen:

Schritt 1:
Einen Sitzkreis bilden. Das Beste ist ein festes Bänkchenquadrat, das – aus Platzgründen – immer vor der Tafel steht.

Schritt 2:
Eine Kladde nehmen und „Klassenrat“ draufschreiben. Von nun an kann jedes Kind jederzeit) etwas in das Klassenrat-Buch rein schreiben, wenn es ein Problem irgendwelcher Art hat. Statt zu schreiben kann man auch seine Sorgen malen. Name dazu, vielleicht auch Datum – fertig. Beim nächsten Klassenrat wird es besprochen (nicht eher).

Schritt 3:
Eine tolerante Haltung der Lehrerin und des Lehrers ist zu entwickeln: Der moralische Zeigefinger ist in einem Klassenrat Tabu! Wir wollen die Sorgen verstehen. Wer jemandem Gewalt angetan hat, bekommt eine Chance, sich zu erklären (wie in einem Rechtsstaat üblich!). Wenn es ihm Leid tut, kann er sich entschuldigen – es eventuell wieder gut machen.

Schritt 4:
Einmal wöchentlich zur festen Zeit findet der Klassenrat statt. Ohne Ausnahme! Auf diesen Termin müssen sich Kinder, aber auch Eltern verlassen können! Wenn kein Problem im Buch steht, ist Zeit für Spiele im Kreis (z. B. „Heißer Stuhl“: Ein Kind in der Mitte bekommt von den anderen nur Gutes zu hören: „Deine Schuhe finde ich schön! – Du kannst mir gut helfen! – Ich finde, du machst tolle Witze!“).

Schritt 5:
Beim Klassenrat werden die Probleme der Reihe nach durchgearbeitet. Gespräche haben Regeln:

  • Zuerst spricht, wer ein Problem ins Klassenratbuch geschrieben oder gemalt hat.
  • Er spricht so lange er will und wird von niemandem unterbrochen.
  • Dann spricht der Gegenspieler. Auch er wird von niemandem unterbrochen.
  • Erst wenn die beiden Parteien zu Ende geredet haben, ist Zeit für Fragen aus dem Kreis.

Gemeinsam wird am Ende nach Lösungen gesucht.

Schritt 6:
Kinder haben gute Ideen, wie man sich wieder „verträgt“. Die Pädagogen lernen, sich auf die Kinder zu verlassen. Kinder sind den Erwachsenen gleichwertig.

Beispiel: Die Kinder geben dem „Täter“ noch eine Chance. Wird diese Chance jedoch nicht genutzt, dann folgt eine Konsequenz, die bereits vorher festgelegt wird. Schlägt einer in der Pause andere Kinder, so bekommt er im Wiederholungsfall – konsequenterweise – keine weitere Gelegenheit, andere zu schlagen Er hat Pausenverbot. Dies ist vorher mit ihm im Klassenrat vereinbart worden.

Schritt 7:
Klassenrat in allen Klassen der Schule ist ein Idealfall. Vieles wird dadurch leichter. Wer ein Problem mit einem Kind aus einer anderen Klasse hat, geht – begleitet von einem Vertrauten – in den fremden Klassenrat und trägt sein Anliegen vor.
Unsere Erfahrungen nach fünf Jahren Klassenrat in allen Klassen der Schule zeigen einen deutlichen Rückgang von Gewalt zwischen den Schülern. Die Kinder in der Grundschule Berg Fidel stammen aus 22 Nationen. In allen Klassen sind Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und verschiedensten Lernproblemen integriert (vgl. Stähling 2004). Zu erwarten wären mehr Schwierigkeiten als anderswo. Wir stellen jedoch fest, dass Gewalt nicht (mehr) das Thema Nr. 1 ist. Der Grund: Niemand wird mit seinen Sorgen allein gelassen. Jeder an unserer Schule merkt bald, dass wir im Klassenrat für alle sozialen Schwierigkeiten eine Lösung finden können. Eigentlich ist das unglaublich, aber die Kinder schaffen das denn die sind unglaublich!

Literatur:
Pollert, Manfred 2002: Lernen und leben im 1. Schuljahr. Berlin: Cornelsen
Stähling, Reinhard 2002: Unter westfälischen Eichen. Keikheim: lima
Stähling, Reinhard 2003: Der Klassenrat – eine Fortführung reforrnpädagogischer Praxis. In Karlheinz Burk, Angelika Speck-Hamdan, Hartmut Wedekind (Hrsg.): Kinder beteiligen – Demokratie lernen? Frankfurt/M.: Arbeitskreis Grundschule, S. 197–207
Stähling, Reinhard 2004: Multiprofessionelte Teams in altersgemischten Klassen. Ein Konzept für integrativen
Unterricht. In: Die Deutsche Schule, 96, 1 S. 45–55

Zur Vertiefung:
Kiper, Hanna 1997: Selbst- und Mitbestimmung in der Schule: Das Beispiel Klassenrat. Baltmannsweiler: Schneider
Dr. Reinhard Stähling, ehemaliger Schulleiter der Grundschule Berg Fidel (Demokratie-Preis des Grundschulverbandes 2002) freut sich über Rückmeldungen und Kontaktaufnahme