Theaterkritiken
WN Seite Münster-Kultur vom Samstag, 13.06.09
Courage muss kräftig Kreide fressen
Theater in der Kreide inszeniert Brecht-Klassiker mit kabarettistischen Mitteln
Von Amdt Zinkant
Münster. Noch sitzt das Publikum nicht auf den Plätzen, sondern lehnt im Bürgerhaus Kinderhaus gemütlich an der Theke. Zwanglos mischt sich der Chor „Die Untertanen“ unters Volk und trällert frech-frivoles Liedgut aus alter Zeit. Ein hübscher Einstieg, doch es kommt noch dicker: Ein Kommisskopp mit Krücken donnert im Bundeswehr-Jargon drauflos. Wenn diese Feldwebel-Karikatur (Norbert Kauschitz) Glanz und Gloria des Soldatentums beschwört, glaubt man, den Comedian „Ausbilder Schmidt“ vor sich zu haben. Draußen vor dem Eingang zeigt der Feldwebel sich gar als waschechter Feuerfresser – so macht er’s richtig, der deutsche Soldat! Wenn das „Theater in der Kreide“ sich den Brecht-Klassiker „Mutter Courage und ihre Kinde“ vorknöpft, rappelt’s in der Kiste. Da ist Frechheit Trumpf und Courage, die „Hyäne des Schlachtfelds“, muss kräftig Kreide fressen. Noch nicht mal als Frau kommt sie daher, sondern in Gestalt von Armin Käthner. Hat hier jemand ein Runzelweib mit Kopftuch und Bollerwagen erwartet? Käthner grinst: „Jaja, die große Helene Weigel, Gott mag sie liebkosen, aber das macht man heute nicht mehr so!“
Seine Courage ist ein bärtiges Wiesel in Nadelstreifen. Das schon Brecht verhasste Muttertier der Uraufführung wird hier lustvoll-witzig geschlachtet. Durchaus fürsorglich, doch aalglatt und gerissen zeigt der krachledern agierende Mime die Marketenderin, wie sie ganz auf der Höhe der Zeit ihre Sprösslinge in den Laptop hacken lässt, um Kalaschnikows zu ordern. Am Dreißigjährigen Krieg ließ sich leidlich verdienen – der heutige Markt aber ist ein Eldorado!
Langzeitkonflikte wie in Afghanistan oder im Kongo zeugen zynische Kriegsgewinnler. Diese greift Regisseur Reinhard Stähling von mehreren Flanken an. So läuft auf der Leinwand Wim Wenders Kurzfilm „War in Peace“, der traumatisierte Kinder im Kongo zeigt, in der Endlosschleife.
Außerdem tritt Käthner immer wieder als Moderator mit Zylinder auf, der für seine Firma „Weiße Taube GmbH“ im Publikum Söldner für Afghanistan rekrutieren will. Noch mehr Rollen muss der genial vielseitige Norbert Kauschitz meistern: Ob einäugiger Hauptmann, Kölsch quasselnder Koch oder schwäbelnder Pfaffe: Er lässt die Puppen tanzen.
Echte Kinder spielen die Kinder Courages: Felix (Eilif und Schweizerkas) und Frederik Stähling (Kattrin). Zwar strotzte die kabarettistische Inszenierung vor Einfällen, so dass der Fokus manchmal etwas unscharf wurde. Das Publikum aber goutierte den volkstümlich derben Brecht mit Wonne.
MZ Seite Münster · Feuilleton vom Samstag, 13.06.09
Die Wiederauferstehung des Krieges
Münster. Draußen steht ein Soldat und spuckt Feuer. Mühselig hält er sich auf zwei Krücken, die Glieder klappern, die Worte rasseln. Das Publikum ist ihm willig ins Freie gefolgt, lässt sich anpöbeln und skandiert lauthals den Namen „Afghanistan“, als würde der Soldat sie für eine imaginäre Einsatztruppe rekrutieren. Vor dem Bürgerhaus Kinderhaus beginnt Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ mit einem absurden Appell an die Zivilcourage des Volkes: zu gehorchen, furcht- und widerspruchslos zu sein. Mit einem radikal auf die Tagespolitik aktualisierten Vorspiel begann das „Theater in der Kreide“ seine Inszenierung eines der berühmtesten Theaterstücke des 20. Jahrhunderts.
Das Ensemble unter der Regie von Reinhard Stähling zielte auf die Wiederauferstehung des Krieges für deutsche Soldaten, die über fünfzig Jahre außerhalb internationaler Schusslinien agierten. Die Stärke der Aufführung lag in ihrer rigorosen Beschränkung auf eine Hand voll Laienschauspieler, wenige Requisiten und eine prägnanten Inszenierung. Brechts „Courage“ ist kein Theater szenischer Vieldeutigkeiten, aber gerade scheinbar improvisierte Momente wie das Umziehen auf offener Bühne suggerierten Tempo und dramaturgische Unmittelbarkeit.
Der Chor „Die Untertanen“ kommentierte mit eingestreuten Gesängen das Malheur der Mutter Courage, die in den Krieg wie in ein Lebenselixier taucht.
Armin Käthner tobte und krakelte in der Rolle der unbelehrbaren Courage und tauchte wenige Augenblicke später als gut gelaunter Conferencier auf. Norbert Kauschitz brillierte als randalierender Feldwebel, Koch, Obrist und Prediger. Felix und Frederik Stähling bewiesen als Kinder der Courage sicheres Timing und Körperbeherrschung, Thomas Schnellen unterlegte Wim Wenders die Szenenwechsel vertiefenden Videofilm „War in Peace“ mit Hallgeräuschen, die er Metallgerätschaften an einem überdimensionierten Galgen entlockte. Herzlicher Beifall.
Günter Mosele
Westfälische Nachrichten 23.06.2009
Werber für den Afghanistan-Krieg
Theater in der Kreide bietet ungewöhnliche „Mutter Courage“
nit- Lüdinghausen. Gleich zu Anfang von „Mutter Courage und ihre Kinder“ bewies das Theater in der Kreide am Samstagabend im Ricordo, dass sein Publikum nicht nur Zuschauer, sondern auch Akteur sein wird. Denn so überraschend, wie der durch den Krieg abgehärtete Feldwebel im Publikum auftauchte, war auch sein Kommando, ihm auf die Außenterrasse des Ricordo zu folgen. Dort spielte Norbert Kauschitz weiter den über zeugten Kriegsveteran, der Ordnung nur im Krieg herrschen sieht. Zur der außergewöhnlichen Inszenierung gehörte auch ein mit vermummten Personen besetztes Kanu und eine Feuerschluckereinlage. Wieder in den beheizten Saal zurückgelangt, stellte sich ein Moderator (Armin Käthner) mit Zylinder vor, der die Zuschauer als Rekruten für den Afghanistan Krieg anwarb und einen sogenannten Kriegsgewinnler darstellte. Auch wenn die münsterische Schauspielgruppe für spektakuläre Theaterinszenierungen bekannt ist, wunderte sich so mancher Besucher, der Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ im Deutschunterricht gelesen hatte, über diesen Einstieg in den Klassiker.
Die eigentliche Geschichte, die zwischen 1624 und 1636 zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges spielt, begann nun nach der „Werbeveranstaltung“ mit einer sechsköpfigen Schauspielerriege. Anna Fierling, von allen nur die Mutter Courage genannt, zieht mit ihren drei Kindern Eilif, Schweizerkas und Kattrin durch Europa, um mit ihrem fahrbaren Verkaufsladen an Kriegsschauplätzen ihr Geld zu machen. Sie profitiert von den·Notsituationen der Menschen und fürchtet daher den Frieden.
Auch ist sie sich der Gefahr, die für die Tochter und die bei den Söhne besteht, bewusst. Dennoch hält sie an ihrem Verkaufsladen fest. Natürlich verliert die Mutter Courage, gespielt von Armin Käthner, im Laufe des Stückes ihre Kinder an den Krieg. Alle drei werden umgebracht. Im Glauben, dass wenigstens ihr Sohn Schweizerkas noch lebt, zieht die Mutter Courage weiter dem Heer hinterher. Zwischen den einzelnen Szenen tauchte mehrmals der Werbemoderator auf, der nun nicht nur für eine „Reise“ nach Afghanistan warb, sondern auch die jeweiligen Personen vorstellte. Im Gegensatz zum Original ließ Reinhard Stähling bei seiner Inszenierung einige Figuren weg, so dass das Stück auch mit sechs Schauspielern zu meistern war. Besonders Norbert Kauschitz und Armin Käthner beeindruckten mit einer Vielzahl von dargestellten Charakteren. Dem vielseitigen Norbert Kauschitz, der im Stück vier Personen verkörperte, gelang es, Dialogszenen gekonnt alleine zu präsentieren. In Sekundenschnelle schlüpfte er in die verschiedensten Figuren und gab ihnen eine eigene unverwechselbare Persönlichkeit. Am Ende der knapp dreistündigen Aufführung bekamen die Schauspieler und Regisseur Reinhard Stähling zu Recht ihren Applaus für ihre lustvoll-witzige und mit Überraschungen versehene Theaterinszenierung der „Mutter Courage“.
Westfälische Nachrichten 09.11.2009
Senden – Wie die Zeiten sich doch ändern. Musste sich im 17. Jahrhundert Mutter Courage samt ihren Kindern noch mit einem riesigen, sperrigen Marketender-Karren mühsam von Kriegsschauplatz zu Kriegsschauplatz bewegen, reicht ihr heute ein Notebook, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Ein Tastendruck genügt, um kistenweise Waffen, Munition und Nachschub vom Hersteller zum Kunden zu bewegen. Wie aktuell die Brechtsche Vorlage auch 70 Jahre nach ihrer Entstehung sein kann, zeigte nun eindrucksvoll das „Theater in der Kreide“.
Auf Einladung der KuKiS gastierte das Ensemble aus Münster am Samstag in Senden und inszenierte die neuzeitliche Adaption des historischen Themas, das von Gewinnern und Verlierern in Kriegszeiten handelt. Auf Einladung der KuKiS gastierte das Ensemble aus Münster am Samstag in Senden und inszenierte die neuzeitliche Adaption des historischen Themas, das von Gewinnern und Verlierern in Kriegszeiten handelt.
An diesem Abend musste sich das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes „warm anziehen“: Denn bereits vor der Friedenskapelle ließ Schauspieler Norbert Kauschitz im Tarnanzug erst einmal sein Publikum zum Appell antreten, bevor es ins Theater ging. Dort zeigte er gleich zu Beginn seinen Einsatzeifer und sorgte mit seiner zirkusreifen Einlage, was ein Soldat gerade in Kriegszeiten haben müsse: nämlich Feuer. Die Rolle, in der einst Helene Weigel brillierte, füllte aktuell Armin Kähtner mit Leben. Weitere Unterstützung auf der Bühne fanden Norbert Kauschitz und Armin Käthner noch bei Felix und Frederik Stähling sowie bei Thomas Schnellen, der für den „guten Ton“ sorgte.
Schon seit Jahren hat sich die Gruppe um Reinhard Stähling schwerpunktmäßig den Klassikern von Berthold Brecht verschrieben. Im Gegensatz zur Vorlage hat Stähling nicht den „Dreißigjährigen Krieg“ als Schauplatz gewählt. Der münsterische Regisseur ließ seine Protagonisten in der Gegenwart agieren – da in vielen Ländern Krieg an der Tagesordnung ist.
Gut zweieinhalb Stunden lang widmeten sich Publikum und Darsteller diesem Thema. Zum Mitmachen wurde ebenfalls angeregt. Doch statt eine brennende Fackel zu schlucken, landete ein Matjeshering im Mund.
Westfälische Nachrichten 10.03.2010
Werber für den Afghanistan-Krieg
„MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER“
Mettingen. Wer am Freitag kurz vor halb acht zum Mettinger Bürgerhaus kam, durfte sich gewundert haben. Vor der Tür stand ein Feuerschlucker in Militäruniform, er wurde von einer kleinen Menschentraube umringt, die er dazu animierte, wieder und wieder „Af-gha-nis-tan“ zu skandieren.
Der Mettinger Kulturverein hatte das „Theater in der Kreide“ aus Münster engagiert, das mit einer modernen Interpretation von Bertolt Brechts Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ gastierte. Die optisch markante Szene, bei der die Flamme umso stärker loderte, je lauter gesprochen wurde, bildete den Auftakt dazu. Das Theater in der Kreide unter Regie von Reinhard Stähling will nach eigenen Angaben „ohne Scheu vor großen Namen“ Stücke gegen jede Erwartungshaltung spektakulär und clownesk inszenieren.
Das ist ihm zweifellos gelungen und die 25 Zuschauer honorierten die beachtliche schauspielerische Leistung des sechsköpfigen Teams am Ende mit reichem Beifall. Über die konzeptionelle Neufassung des Stückes war man jedoch geteilter Meinung. Brecht schrieb sein Anti-Kriegsstück in zwölf Bildern kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, ließ es jedoch im Dreißigjährigen Krieg spielen. Alle Figuren des Dramas vom Soldaten über die Hauptperson des Stückes bis hin zum Feldprediger und Koch leben vom Krieg. Die Figuren selbst beurteilen ihre Lage ausschließlich nach finanziellen Gesichtspunkten, wobei sich eine wachsende Diskrepanz zwischen ihren Ansichten und den Tatsachen ergibt, die der Zuschauer immer deutlicher erkennt.
Dabei lässt die Projektion der Kriegsproblematik in längst vergangene Zeiten dem Zuschauer viel Raum, aktuelle Rückschlüsse zu ziehen. Anders die Inszenierung des Theaters in der Kreide: Der Auftritt eines Moderators und Ansprechpartners der Firma „Weiße Taube“ (Armin Käthner) vor jedem Bild schrieb die Beziehung zum Hier und Jetzt formelhaft karikierend fest. Damit reduzierte Stähling nicht nur die Allgemeingültigkeit des künstlerischen Lehrstückes, sondern schränkte zusätzlich die Eigenständigkeit der Zuschauer beim Erkenntnisprozess über den „Nutzen” des Krieges ein.
Klanginstallationen auf dem Gong und anderen Metallgerätschaften regten dagegen die Fantasie der Besucher an (Friedensglocke = Totenglöckchen). Die fremdartige Klangwelt verdichtete meist die Atmosphäre, wirkte aber im Laufe der gut zweieinhalbstündigen Spielzeit auch langatmig. Gleiches gilt für die sich stetig wiederholende Einspielung von Filmfrequenzen aus „War in Peace“ von Wim Wenders. Für amüsante Abwechslung sorgten die lebhaften Szenen zwischen Mutter Courage (ebenfalls glänzend gespielt von Käthner) und dem schwäbelnden Feldprediger beziehungsweise dem Koch als kölschen Typ (beide Norbert Kauschitz in rasantem Spieltempo). Von volkstümlich deftigem Unterhaltungswert war die Interaktion zwischen Soldat und Publikum beim „Heringsessen“ am Ende der Pause. Auch wenn so manche Frage offen blieb – für anregende Diskussion sorgte die Inszenierung allemal.
Sunhild Salascheck