Das Schlimmste ist nicht: Fehler haben, nicht einmal sie nicht bekämpfen ist schlimm. Schlimm ist, sie zu verstecken.
Bertolt Brecht
Serkan besucht »in Berg Fidel« eine Ganztagsklasse. Er lebt und lernt vier oder fünf Jahre zusammen mit seinen Mitschülern und hat die selben erwachsenen Bezugspersonen. Wenn Serkan morgens die Klasse betritt, sieht man, dass er wieder erst um Mitternacht ins Bett gekommen ist. Er hat mit Vater zusammen vor dem Fernseher gesessen. Mutter hat es nicht geschafft, ihn ins Bett zubringen. So muss er erst mal auf den »Lesehimmel« und sich ausruhen. Im Wechsel von Spannung und Entspannung, von Spiel und Arbeit findet Serkan seinen eigenen Rhythmus in der Gruppe. Ein 45-MinutenTakt wäre undenkbar, ein Störfaktor.
Mit Serkan zusammen besuchen mehr als 200 Kinder aus 22 Nationen die Schule. Kinder aus den Jahrgängen 1–4 lernen zusammen in derselben Klasse. Die Klassen haben Namen von Tieren oder Pflanzen. Serkan ist 9 Jahre alt und lernt langsamer als viele seines Alters, aber er ist kein »Schlusslicht«. Und sitzen bleiben kann er auch nicht. Er betreut sogar Maxi, sein Patenkind, das gerade in die Klasse gekommen ist. Schon im Kindergarten war er mit dem kleinen Maxi in derselben Gruppe und hatte sich gut mit ihm verstanden. Maxi war bereits im Mai zu einem Schulbesuchstag in Serkans Klasse gekommen. Als Serkan selbst noch Erstklässler war, hatte er noch viel Angst. Inzwischen ist er besonders eifrig, wenn es darum geht, Maxi die Furcht vor dem Wald zu nehmen. Maxi war nämlich noch nie im Wald und glaubt dort auf Tiger und Schlangen zu stoßen.
Für Serkan und seine 24 Klassenkameraden zwischen 5 und 12 Jahren ist ein »multiprofessionelles Team« zuständig. Die Klassenlehrerin, eine Sonderpädagogin, eine Erzieherin und studentische Mitarbeiter fühlen sich für die Kinder zwischen 7.45 Uhr und 15.30 Uhr verantwortlich. Kein Erwachsener steht mit seiner schweren Aufgabe alleine. Die Arbeit wird in wöchentlichen Teamsitzungen koordiniert. Alle sechs Wochen nutzten die Mitarbeiter dieser Klasse eine Teamsupervision.
Serkan ist kein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf, aber in seiner Klasse leben und lernen zwei »lernbehinderte« Kinder, ohne dass Serkan dies weiß und sie als »Sonderschüler« etikettieren würde. Der »gemeinsame Unterricht« ist orientiert an einer »Pädagogik der Vielfalt« (vgl. HINZ 2002). Jedes Kind, das in die Ganztagsklasse kommt, wird vor Schulbeginn von der Erzieherin der zukünftigen Klasse zu Hause besucht.
Serkan kennt die Regeln seiner Klasse ganz genau. Sie wurden mit den Kindern gemeinsam im Klassenrat festgelegt. Und Serkan war es, der Maxi die Regeln der Bewegungsbaustelle in der Turnhalle genau erklärt hat. Wenn er – wie manchmal – gegen Schulhofregeln verstößt, kann er mit einer konsequenten Reaktion rechnen, denn die Schulklasse hat dies mit ihm verabredet. Darüber wird nicht lange diskutiert, weil vorab die Konsequenzen klar sind. Oft hat Serkan Streit mit anderen Kindern. Dann geht er wutschnaubend zum Klassenratbuch, trägt ein, was ihm der andere getan hat – und sein Ärger verfliegt meist erstaunlich schnell. Einige Tage später ist Zeit für ein ausführliches Gespräch im Klassenrat. Mit großen Augen verfolgt auch Maxi, wie sein Pate sich wieder mit dem Widersacher verträgt. In diesem wohl wichtigsten Gesprächskreis geht es um Probleme in der Klassengemeinschaft. Deshalb sollten auch immer alle Kinder der Klasse dabei sein. Anders als beim »Streitschlichterverfahren« helfen alle mit, das Problem zu lösen.
Serkan weiß auch, was heute auf dem Programm steht. Vor Überraschungen ist man zwar nie sicher, aber selbst die sind keine Katastrophe. Wichtig für Serkan ist, dass er über möglichst alle Vorhaben des Tages bereits morgens im Sitzkreis informiert wird. Er ist durchaus in der Lage, Tätigkeiten zu bewältigen, die er nicht mag, wenn er zuvor erfahren hat, was auf ihn zukommt.
Die Klassenlehrerin sagt, dass effiziente Klassenführung als Faktor der Unterrichtsqualität von großer Bedeutung ist (vgl. HELMKE 2003). Dies gilt auch und gerade – allen Unkenrufen zum Trotz – für den offenen Unterricht. Manchmal bringen unsere Kinder Besucher zum Staunen, weil – trotz oder gerade wegen der »freien Arbeit« – eine auffallend stille Arbeitsatmosphäre herrscht. Allerdings kann die Klassenlehrerin eine Tatsache nicht recht erklären, nämlich, wie es möglich war, dass Maxi, das Patenkind von Serkan, bereits nach zwei Monaten lesen gelernt hat. Zumindest beteuert sie, dass weder die russischen Eltern noch sie als Lehrerin sich darum ausdrücklich gekümmert haben. Auf folgende Arbeitsformen würde die Klassenlehrerin nicht verzichten. Sie sind besonders effizient für die Klassenführung und auf andere Klassen übertragbar. Die Kinder lernen in so strukturierten Lernprozessen sehr viel unbeschwerter als in Lernsituationen, in denen sie in die passive Rolle gedrängt werden:
- Flexibler Schulbeginn in der Klasse.
- Fester »Sitzkreis« bestehend aus 4 Bänken, die im Quadrat vor der Tafel platziert sind und ständig zur Verfügung stehen.
- Am Ende einer Arbeitsphase und zum Schulschluss: Rückblick auf die Lernprozesse, die Erfolge, die Sorgen u.a. immer haben die Kinder das Wort. Erwachsene halten sich zurück und lernen mit Fehlern tolerant umzugehen.
- Gesprächsregeln für den Sitzkreis, deren Einhaltung konsequent eingefordert wird.
- Freie Arbeit, teilweise mit individuellen Wochenplänen, die mit dem Kind gemeinsam verabredet und aufgeschrieben werden.
- Auch ein »Lerntagebuch« könnte die Arbeit des Kindes begleiten. Kind und Lehrer führen darin eine Art von Briefwechsel über den Lern prozess des Kindes.
- Klassenbriefkasten: jedes Kind und jeder Erwachsene hat ein kleines Brieffach oder einen Kasten, wo Briefe hineingelegt werden können.
- Gelegenheit zum Tagebuchschreiben
- »Geschichtenzeit«, in der alle – auch Erstklässler – sich vertiefen in eigene Gedanken, Träume und Phantasien. Die Kinder schreiben freie Texte und malen Bilder dazu, ohne jeden Leistungsdruck. Rechtschreibung ist dabei niemals Hauptsache! Herausragende Geschichten können in der Schülerzeitung veröffentlicht werden. Auch das Vorlesen der Kindertexte im Sitzkreis wird sehr gewünscht.
- »Lesezeit«, in der Kinder nichts anderes tun als Bücher zu genießen. Praktikanten lesen in dieser Zeit einzelnen Kindern vor, andere schmökern alleine in allen Ecken und Verstecken der Klasse.
- Ablagekörbe oder Hänger für die Arbeitsmaterialien, an denen das Kind am nächsten Tag weiter arbeiten möchte.
- Dienste der Kinder: An einer Pinnwand hängen die Namen der Kinder. Jedes Kind kann freiwillig für mindestens eine Woche einen Dienst übernehmen: z. B. Fische füttern, Tafel putzen, Spiele oder Bücher ordnen, Pausenspiele verteilen u. a. Die Kinder arbeiten nach Bedarf meist in Pausen mit großer Begeisterung an diesen Aufgaben.
- Freies Forschen an selbst gestellten Fragestellungen, z. B. Was macht die Feuerwehr? Eine Kleingruppe plant selbstständig einen Besuch bei der Feuerwehr, bereitet ein Interview vor und fährt alleine – bewaffnet mit Rekorder, Busplan und Kleingeld – mit dem Bus dorthin. Nach wochenlanger Arbeit tragen die Kinder der ganzen Klasse vor, was sie erfahren haben. Äußerst spannend und unvergessen – auch für die Lehrerin, die natürlich auch schon mal zittert, wenn sie die Kleingruppe alleine gehen lässt.
Bei allem Respekt vor diesen Arbeitsformen und -strukturen gilt aber auch hier zuallererst: Schulqualität basiert auf Menschlichkeit: Nur wo sich jemand emotional angenommen fühlt, hat erden Kopf frei für forschendes Lernen. Nur wer die Erfahrung gemacht hat, dass es keine Katastrophe ist, wenn Probleme auftauchen, wird seine Schwierigkeiten einbringen können und vielleicht auch den Mut haben, neue Wege zu gehen. Nur wenn sich Kinder angenommen fühlen, können sie sich auf glattes Eis wagen. Nur wer weiß, dass er aufgefangen wird, kann sich fallen lassen. Die Konsequenz lautet: Mut zum Fehlermachen ist zu kultivieren.
Die dargestellte Arbeit der Grundschule Berg Fidel bildet einen guten Nährboden für ein reiches Wachsen. In dieser Schule machen wir alle zusammen viele Fehler. Das ist unsere Hauptbeschäftigung, wenn man es nüchtern betrachtet! Denn was wäre, wenn wir als Ziel formulieren würden, dass alle sich bemühen sollten, keine Fehler zu machen? Es entstände eine Atmosphäre des Perfektionismus, die die gesamte Energie verschlingen würde. Wer Fehler vermeiden will, macht neue. Er verkrampft sich, kämpft an der falschen Stelle, er leidet unter nicht erreichten Zielen und Erwartungen. Er kann es nicht genießen, dass irgendetwas, was anfangs schwierig aussieht, nachher leicht wirkt. Das Überwinden von Schwierigkeiten ist ein großes Vergnügen. Beschämen durch Verweisen auf Fehler wirkt dagegen entmutigend.
Fehler gehören zu jedem Lernvorgang. Obwohl der Fehler unausweichlich ist und sogar als Voraussetzung für Lernprozesse gilt, wird er in unserem Schulwesen eher als Selektionsinstrument missbraucht:
Dort herrscht vielfach der Vergleich vor. Man vergleicht die Leistungen der Schüler untereinander, aber auch die Lehrer, sogar ganze Schulen werden verglichen, obwohl keine nachprüfbaren Kriterien bekannt werden können. Dies kann zu Wettkampf führen, zum Ausstechen, schließlich zum Fehlersuchen, besonders beim anderen. Fehler nützen dann nicht der Information und lustbetonten Auseinandersetzung, sondern sie gelten als Maßstab für schlechte Leistung, als sackgassenartige »Fehl-Leistung«. Die Fehlerzahl gilt als Auswahlkriterium, als scheinbar verlässliches, messbares Kriterium der Selektion. Nur durch vermeidung von Fehlern und Fehl-Leistungen meint man einem Versagen zu entkommen. Es entsteht der Eindruck, Schüler gingen in die Schule, um zu lernen, weniger Fehler zu machen. Der Lehrer in einem solchen System hetzt sich selbst.
Gelegenheit zum Tagebuchschreiben
- »Geschichtenzeit«, in der alle – auch Erstklässler – sich vertiefen in eigene Gedanken, Träume und Phantasien. Die Kinder schreiben freie Texte und malen Bilder dazu, ohne jeden Leistungsdruck. Rechtschreibung ist dabei niemals Hauptsache! Herausragende Geschichten können in der Schülerzeitung veröffentlicht werden. Auch das Vorlesen der Kindertexte im Sitzkreis wird sehr gewünscht.
- »Lesezeit«, in der Kinder nichts anderes tun als Bücher zu genießen. Praktikanten lesen in dieser Zeit einzelnen Kindern vor, andere schmökern alleine in allen Ecken und Verstecken der Klasse.
- Ablagekörbe oder Hänger für die Arbeitsmaterialien, an denen das Kind am nächsten Tag weiter arbeiten möchte.
- Dienste der Kinder: An einer Pinnwand hängen die Namen der Kinder. Jedes Kind kann freiwillig für mindestens eine Woche einen Dienst übernehmen: z. B. Fische füttern, Tafel putzen, Spiele oder Bücher ordnen, Pausenspiele verteilen u. a. Die Kinder arbeiten nach Bedarf meist in Pausen mit großer Begeisterung an diesen Aufgaben.
- Freies Forschen an selbst gestellten Fragestellungen, z. B. Was macht die Feuerwehr? Eine Kleingruppe plant selbstständig einen Besuch bei der Feuerwehr, bereitet ein Interview vor und fährt alleine – bewaffnet mit Rekorder, Busplan und Kleingeld – mit dem Bus dorthin. Nach wochenlanger Arbeit tragen die Kinder der ganzen Klasse vor, was sie erfahren haben. Äußerst spannend und unvergessen – auch für die Lehrerin, die natürlich auch schon mal zittert, wenn sie die Kleingruppe alleine gehen lässt.
Bei allem Respekt vor diesen Arbeitsformen und -strukturen gilt aber auch hier zuallererst: Schulqualität basiert auf Menschlichkeit: Nur wo sich jemand emotional angenommen fühlt, hat erden Kopf frei für forschendes Lernen. Nur wer die Erfahrung gemacht hat, dass es keine Katastrophe ist, wenn Probleme auftauchen, wird seine Schwierigkeiten einbringen können und vielleicht auch den Mut haben, neue Wege zu gehen. Nur wenn sich Kinder angenommen fühlen, können sie sich auf glattes Eis wagen. Nur wer weiß, dass er aufgefangen wird, kann sich fallen lassen. Die Konsequenz lautet: Mut zum Fehlermachen ist zu kultivieren.
Die dargestellte Arbeit der Grundschule Berg Fidel bildet einen guten Nährboden für ein reiches Wachsen. In dieser Schule machen wir alle zusammen viele Fehler. Das ist unsere Hauptbeschäftigung, wenn man es nüchtern betrachtet! Denn was wäre, wenn wir als Ziel formulieren würden, dass alle sich bemühen sollten, keine Fehler zu machen? Es entstände eine Atmosphäre des Perfektionismus, die die gesamte Energie verschlingen würde. Wer Fehler vermeiden will, macht neue. Er verkrampft sich, kämpft an der falschen Stelle, er leidet unter nicht erreichten Zielen und Erwartungen. Er kann es nicht genießen, dass irgendetwas, was anfangs schwierig aussieht, nachher leicht wirkt. Das Überwinden von Schwierigkeiten ist ein großes Vergnügen. Beschämen durch Verweisen auf Fehler wirkt dagegen entmutigend.
Fehler gehören zu jedem Lernvorgang. Obwohl der Fehler unausweichlich ist und sogar als Voraussetzung für Lernprozesse gilt, wird er in unserem Schulwesen eher als Selektionsinstrument missbraucht:
Dort herrscht vielfach der Vergleich vor. Man vergleicht die Leistungen der Schüler untereinander, aber auch die Lehrer, sogar ganze Schulen werden verglichen, obwohl keine nachprüfbaren Kriterien bekannt werden können. Dies kann zu Wettkampf führen, zum Ausstechen, schließlich zum Fehlersuchen, besonders beim anderen. Fehler nützen dann nicht der Information und lustbetonten Auseinandersetzung, sondern sie gelten als Maßstab für schlechte Leistung, als sackgassenartige »Fehl-Leistung«. Die Fehlerzahl gilt als Auswahlkriterium, als scheinbar verlässliches, messbares Kriterium der Selektion. Nur durch vermeidung von Fehlern und Fehl-Leistungen meint man einem Versagen zu entkommen. Es entsteht der Eindruck, Schüler gingen in die Schule, um zu lernen, weniger Fehler zu machen. Der Lehrer in einem solchen System hetzt sich selbst.
Wie viel pädagogische Anstrengungen sind erforderlich, um in einem solchen auf Selektion zielenden schulwesen entdeckendes Lernen, forschendes Experimentieren und Mut zur Unvollkommenheit zu fördern? Das überfordert die Lehrer.
Ich wünschte uns Grundschulleuten den Mut zum Widerstand gegen derartige Überforderungen wie Vergleichsarbeiten, die zudem eigentlich nicht an uns adressiert sein können. Wer hat denn in den 70er- bis 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts in deutschen Schulen die pädagogischen Arbeits- und Organisationsformen so vorbildlich entwickelt, dass wir heute in den Grundschulen den Vergleich mit den PISA-Siegern nicht zu scheuen brauchen? Wer hat denn in Deutschland die Schulen vorzuweisen, für die sich sogar das Ausland interessiert? Wer hat denn die Schule so gestaltet, dass Eltern und Kinder mit Freude in die Gebäude gehen, wo Blumen und Tiere gepflegt werden, Kreativität blüht und auch mal ein Kind in den Arm genommen wird? Ohne die herausragenden Leistungen der vielen engagierten Grundschulleute wäre die Schullandschaft in Deutschland recht trostlos. Die Grundschulen haben bewiesen, dass sie Höchstleistungen erbringen. Zahllose wissenschaftliche Veröffentlichungen belegen dies. Jede Vergleichsarbeit, jede am grünen Tisch entwickelte Vorschrift zur übereilten Umgestaltung der Grundschule ist ein Schlag ins Gesicht der Kolleginnen und Kollegen. Kinder und Erwachsene brauchen stattdessen Ermutigung zur Weiterentwicklung – und Ruhe zum Wachsen!
Eine kreative Schulentwicklung verträgt sich aber nicht mit den vielen eiligen Maßnahmen, die angeblich nach PISA angestoßen werden mussten: Vergleichsarbeiten, Standards, Schulprogramme, Schuleingangsphase – alles dies soll unter irrationalem Zeitdruck in möglichst allen Grundschulen umgesetzt werden (»Auf welcher Baustelle arbeiten Sie gerade, Frau Kollegin?«)! Es entsteht der Eindruck, als müssten die Grundschullehrerinnen und -lehrer dafür bluten, dass in der Sekundarstufe bei 15-jährigen Schülern enorme Leistungsdefizite festgestellt wurden. Die Schulpolitik hat scheinbar nicht gelernt, mit Fehlern sinnvoll, lustvoll und gewinnbringend umzugehen.
Wenn unsere Schulen »Treibhäuser der Zukunft« (REINHARD KAHL) werden sollen, muss es darum gehen, das Menschliche in den Schulen zu lassen.
Welche pädagogischen Merkmale hat eine Schule, die Menschlichkeit wachsen lässt? Welche Wachstumsbedingungen müssen in diesen »Treibhäusern« bestehen?
Im sozialen Brennpunkt »Berg Fidel« in Münster, wo Serkan zur Schule geht, finden sich einige dieser Wachstumsbedingungen, die Menschlichkeit gedeihen lassen. Sie lassen sich unter dem Motto »Schule der Vielfalt« (Grundschulkongress 1999) zusammenfassen. Dazu gehört sehrviel Mut: Mut, Fehler zu machen und die daran anschließende – nicht immer wohlmeinende – Kritik auszuhalten. Wenn das normale, fehlerbehaftete Leben in die Schule geholt wird, dann müssen wir uns weniger Sorgen um die Ermutigung von Kindern machen. Zum »Leben«, das ermutigend wirkt, gehört mit Sicherheit nicht die Pädagogisierung des Miteinander. Wir können aber Rahmenbedingungen schaffen, in denen viele Ermutigungschancen liegen. In unserer Schule sehe ich ständig Kinder, die sich gegenseitig unterstützen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Sie lernen eben in altersgemischten Klassen – da passiert das automatisch –, wenn nicht ein Perfektionist aus Angst vor dem Fehlermachen durch Über-Planung die Chancen solchen Erlebens einschränkt.
KORCZAK, der große polnische Pädagoge und Arzt, schrieb Tagebuch. Der Umgang mit seinen eigenen »Schwächen« als Erzieher, das »Fehlermachen« der Erwachsenen und das Reflektieren darüber können wir bei KORCZAK lernen (siehe Kasten). Und wir lernen von ihm und anderen Kollegen, indem wir sehen, dass woanders »auch nur mit Wasser gekocht wird«.
Sind Fehler – auch die der Pädagogen – ein Zeichen für schlechte Qualität? Lernen wir weniger gut, weil wir Fehler machen? Mindert etwa die von KORCZAK beschriebene Ungeduld der Erzieher die Qualität der Erziehung? Ist es nicht eher ein Zeichen von Menschlichkeit, dass so etwas vorkommt, auch wenn es keiner will? Und weiche Höchstleistung finden wir dort, wo jemand über sein Verhalten reflektiert und versucht zu verstehen, was in dem Menschen vorgeht?
In einer Schule, in der Fehler gemacht werden dürfen, in der Schüler Mut zum Ausprobieren entwickeln, müssen auch die Erwachsenen Fehler machen. Meine These: Ein lustvoller Umgang mit Fehlern ist eine Bedingung für hohe Schulqualität. Die empirische Forschung zur Qualität von Schule hätte hier ein großes Aufgabengebiet zu bewältigen.
REINHARD STÄHLING
»Ein weiblicher Zögling von vierzehn Jahren, mit schlechter Beurteilung. Ohne anzuklopfen geht sie in die Kanzlei, um als Diensthabende die Scheibe mit dem Lappen zu putzen. Zu allem Übel schlägt sie die Tür laut zu. Sie wird heruntergemacht. Die nervösen Erzieher kennen solche Ausbrüche, die ehrlichen schämen sich ihrer und fürchten sie. So mit Worten prügeln, so einen Menschen schnöde behandeln – das vermag nur pathologische Ungeduld: Drohung, Schimpfworte, aufstachelnde Ermahnungen, boshafte Invektive. – Du hast das absichtlich gemacht, du bist so und so eine, ich werde dich so und so anfassen, du denkst ich habe das und jenes vergessen.
(JANUSZ KORCZAK 1938/39, S. 32)
Zur Antwort ein Blick – nicht dreist, nicht ängstlich, nicht gleichgültig, eher verwundert. – Was ist geschehen? – Mach dich sofort weg.
Nach einigen Augenblicken trifft man sie am Ende des Korridors, den Blick durchs Fenster gerichtet. Daneben auf dem Fenster eine Schüssel mit Wasser und der Wischlappen! Vorsichtig, als Mittler, trete ich zu ihr.
– Ärgere dich nicht, das Fräulein ist müde, sie fühlt sich nicht wohl. Man darf die Türen nicht zuschlagen. – Ich habe es nicht gewusst. – Na eben, entschuldige dich. Man muss Türen behutsam zumachen. – Was für Türen? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. – Du hast einen Rüffel bekommen. – Ich? Wann? – Eben erst, in der Kanzlei. – Ich weiß es gar nicht mehr.
Und mit matter Stimme, eher ein Bekenntnis zu sich selbst: – Ich habe alles so dick, mir ist alles so egal. Sie denken wohl, ich tue nur so? – Ich habe wirklich nicht gemerkt, dass die Tür zuschlug. Ich ärgere mich gar nicht. Ich weiß nicht mehr, was man zu mir sagt.
Dieser Blick, diese Stimme – Erzieher müssen sie kennen.«
Literatur
HELMKE, ANDREAS 2003: Unterrichtsqualität. Seelze: Kallmeyer
HINZ, ANDREAS 2002: Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 53, 9, S. 354–361
KORCZAK, JANUSZ 1938/39:Verteidigt die Kinder! Gütersloh 1978: Mohn
STÄHLING, REINHARD 2002: „Wir sind ständig auf Klassenfahrt“ – Ein übertragbares Modell ganztägiger Erziehung in der Grundschule. In: neue deutsche schule, 54, 9, S. 22–23
STÄHLING, REINHARD 2003: Der Klassenrat – eine Fortführung reformpädagogischer Praxis. In: KARLHEINZ BURK, ANGELIKA SPECK-HAMDAN, HARTMUT WEDEKIND (Hrsg.): Kinder beteiligen – Demokratie lernen? Frankfurt/M.: Arbeitskreis Grundschule, S. 197–207
STÄHLING, REINHARD 2004: Multiprofessionelle Teams in altersgemischten Klassen. Ein Konzept für integrativen Unterricht. In: Die Deutsche Schule, 96, 1, S.45–55