Reinhard Stähling / Barbara Wenders
Ungehorsam im Schuldienst.
Von heutigen Schulreformern lernen
Ein neues Praxisbuch für den Umbau der Schule
Mit Fotos von Donata Wenders,
Baltmannsweiler (Schneider Verlag Hohengeren,
Basiswissen Grundschule Bd. 66) 256 S.,
3. Aufl. 2011, ISBN 978-3834008343, € 19,80
Geleitwort der beiden Inklusionsforscher Ines Boban und Andreas Hinz 2011
Dazugehören – das ist die Essenz dessen, was jedes Wesen braucht. Weil jedes DU zu dem ICH wird, dessen DU wir ihm sind, ist es essenziell, dass gesellschaftliche Institutionen sich so gestalten, dass jedes DU sich willkommen, getragen und gehalten fühlen kann – wenn wir denn eine dialogische, also inklusive Gesellschaft werden wollen. Eigentlich stellt sich diese Frage aber gar nicht mehr, nachdem die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung von 2006 auch bei uns in Deutschland seit 2009 zweifelsfrei feststellt, dass die Menschenrechte diskriminierungsfrei für alle und auch in der Schule gelten.
Wenn Studierende analysieren, wie problematisch ihnen gesellschaftliche Tendenzen dagegen erscheinen – beginnend schon bei medizinischen Möglichkeiten vorgeburtlicher Selektion –, halten wir ihnen vor Augen, dass wir als diejenigen, die Kinder und Jugendliche auf ihrem (Lern-) Weg begleiten, dennoch an einer entscheidenden Stelle etwas tun können, was evtl. sogar die frühen medizinischen Eingriffe aushebeln könnte: Wir können Kulturen, Strukturen und Praktiken in allen Lebensphasen so (um-) gestalten, dass jedes Kind und mit ihm seine Familie sich freundlich empfangen und teilhabend, teilnehmend und teilgebend fühlen kann und so auch von seinen Eltern Druck genommen wird.
Dafür gibt es viel zu tun. Wie sehr wir uns in einem kulturellen Umbruch befinden, kann ein Ausschnitt aus unserer Festrede zur feierlichen Übergabe der Examenszeugnisse an Studierende der Lehrämter an Gymnasien und Sekundarschulen an der Martin-Luther-Universität Halle im Sommersemester 2011 verdeutlichen:
Es war einmal eine Zeit, da
- durften Frauen nicht Fußball spielen
- durften Mädchen nicht zur Schule gehen und Frauen nicht zur Universität,
- galt die Hauptschule als sinnvolle Lernsituation,
- gab es eine Wehrpflicht und einen Zivildienst, der vorher Ersatzdienst hieß,
- gab es Sklaverei, Konzentrationslager und Apartheid,
- gab es eine Mauer, die Deutschland in zwei Teile teilte,
- galten Kernkraftwerke als sicher und deren Gegner als Spinner,
- war es unmöglich, bekennend homosexuell Bürgermeister zu werden.
Demnächst wird es eine Zeit geben, in der man sich kaum mehr vorstellen kann, dass es eine Zeit gab, da
- gab es sechs Sorten von LehrerInnen, die alle im Wesentlichen allein arbeiteten,
- wurden Kinder und Jugendliche zwangsweise auf verschiedene Schulformen verteilt,
- gab es eine Mauer – in Israel (auf die jemand geschrieben hatte: Ich bin ein Berliner).“
Dies war am 27. 6. 2011 in Halle – der Monat, an dem die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen in Deutschland stattfand und die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, und es war der Tag, an dem der Bundesvorstand der CDU den Beschluss zur Überwindung des ‚dreigliedrigen Schulsystems‘ fasste. Ethische und moralische Revolutionen sind also Alltagserfahrung. Die Zeit ist reif für Orte, die das ‚Belonging‘, das Dazugehören ermöglichen, Orte, die vermitteln: ‚Du bist hier richtig. Und das wird durch nichts und niemanden je in Frage gestellt.‘ Dass und wie das gehen kann – auch und gerade in einer Stadtteilschule –, zeigt dieses ermutigende Buch von Reinhard Stähling. Klar, dass dafür einige Spielregeln des veralteten Beschämungs- und Separationsspiels verändert werden müssen – und zwar für alle. Davon erzählen diese wichtigen Seiten dieser nun vierten Auflage. Wir sind froh, dass dieses ‚gute Zeugnis‘ für die Machbarkeit des Wandels immer mehr LeserInnen findet.
Halle (Saale) / Kroatien, September 2011 Ines Boban & Andreas Hinz
Reinhard Stähling / Barbara Wenders
Ungehorsam im Schuldienst
Von heutigen Schulreformen lernen
Ein neues Praxisbuch für den Umbau der Schule
Der Mensch hat sich durch Akte des Ungehorsams weiter entwickelt“, schreibt Erich Fromm 1963, „auch die intellektuelle Entwicklung hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam zur Voraussetzung.“
Neville Alexander, einer der bedeutenden Befreiungspädagogen Südafrikas und Weggefährte Nelson Mandelas erzählt, wie er ein Jahrzehnt im Gefängnis Mithäftlingen das Lesen und Schreiben beibrachte. Diese und andere Geschichten zeigen den Wert des Ungehorsams für die Bildung. Sie sind in diesem Buch gesammelt. Gerhard Sennlaub hat als Schulrat ganze Lehrergenerationen fasziniert, indem er sich gegen unsinnige Schulvorschriften wehrte. Schulamtsleiter Heinz Kreiselmeyer kämpfte gegen die Mühlen der Bürokratie und blieb trotz eines Disziplinarverfahrens bis heute ungebrochen. Mit unbeirrter Durchhaltekraft baute Gordon Porter kanadische Schulen um, die wirklich für alle sind. Schulleiterin Gertraud Greiling zeigte Kindern in der Wartburgschule, die 2008 den deutschen Schulpreis erhielt, wie man in Freiheit selbstständig handeln kann.
Bedeutende Pädagogen unserer Zeit betreiben eine Art von Selbsterforschung, wenn sie ihre Arbeit im Nachhinein betrachten. Sie alle entdecken den Bildungswert des Ungehorsams. Ihre aufrechte, humorvolle Haltung macht sie unbequem. Faszinierende Fotos von Donata Wenders lenken den Blick auf die Würde der Kinder, um die es geht. Das Buch bietet Hilfen für den Umbau der Schulen und beschreibt an fassbaren Beispielen, wie das traditionelle Schulwesen ins Wanken kommt: Eine Kraftquelle für alle, die Schule verändern wollen.
Barbara Wenders, Jg. 1952, Lehrerin für Grund- und Hauptschule und Sonderpädagogik, arbeitet im Gemeinsamen Unterricht in der Grundschule Berg Fidel Münster
Reinhard Stähling, Jg. 1956, Leiter der Grundschule Berg Fidel in Münster
Fotografische Schulimpressionen von Donata Wenders, Jg. 1965, Fotografin, Berlin
Ungehorsam im Schuldienst
Eine Rezension des gleichnamigen Buches
von Barbara Wenders und Reinhard Stähling
Auf dieses Buch habe ich schon seit vielen, vielen Jahren gewartet und sicherheitshalber schon mal einen Platz im Regal freigehalten. Ich wusste, es wird eines Tages erscheinen. Wahrscheinlich hat es die Zeit gebraucht, bis sich AutorInnen gefunden haben, um mit ihrer „Geschichte“ an die Öffentlichkeit zu gehen. Barbara Wenders und Reinhard Stähling ist es zu verdanken, dass dieses Werk über „Akte des Ungehorsams“ das Licht der Öffentlichkeit erblickte.
Wovon handelt das Buch?
Zwölf AutorIinnen, allesamt aus dem Bildungsbereich, berichten über ihren Berufsalltag als LehrerInnen, RektorInnen, in Heimen, in der Lehrerausbildung oder in der Schulaufsicht. Barbara Wenders und Reinhard Stähling stellten Interviewfragen, die Interviewpartner schilderten ihren alltäglichen Kampf gegen unsinnige Vorschriften, verknöcherte und unsichere KollegInnen und beschrieben destruktive, teilweise auch bösartige Vorgesetzte. Sie wehrten sich gegen Bevormundung und traten für Menschen ein, die auch unter der Willkür zu leiden hatten oder sich (noch) nicht wehren konnten. Es sind erlebte Geschichten und leise, manchmal auch laute Aufschreie gegen das Unrecht.
„Der lange steinige Weg – Ungehorsam im Dienste der Bildung“
Im ersten Interview des 1. Kapitels erzählt ein Schulrat, Gerhard Sennlaub (Titel: Gegen amtlich angeordnete Kinderschändung), dass er Freude und Befriedigung in seinem Beruf als Dorfschullehrer erleben wollte. Er müsse als Lehrer einsehen und empfinden können, dass er das Richtige tue. Unter dem Richtigen versteht er, dass sich eine Lehrkraft im Beruf wohlfühlt und dass auch die Kinder sich freuen. Er setzt sich für Kinder ein, für KollegInnen, die er später als Schulleiter an seiner Schule haben wollte. Eine seiner wichtigsten Botschaften: „Bei Auseinandersetzungen muss unser Motto sein: Kein Verlierer!“ S.17
Für die Lehrkräfte fordert er:
„Gebt ihnen den Freiraum, den Idealismus und pädagogische Vernunft brauchen, und ihr werdet merken, wie viele gute es gibt.“ (S. 15)
Ich habe seinen Beitrag als eine Art Einführung in das Buch empfunden.
Exkurse
Zwischen den Interviews schreibt Reinhard Stähling kurze Zusammenfassungen, Ausblicke und theoretische „Abrundungen“. Sie stehen inhaltlich in der Regel in keinem direkten Zusammenhang AUSWEGE – 31.12.09 Rezension: Ungehorsam im Schuldienst 1
zum vorausgehenden Interview. Er nennt sie treffenderweise „Exkurse“. Sie schauen über den Interviewtext hinaus, ordnen ein, struktieren und sammeln. Bei der Gelegenheit sei gleich ein Hinweis auf die Buchstruktur gestattet: Sie ist gut gemacht, übersichtlich und klar im Aufbau. Aufgrund der Struktur mit den vorausgehenden Interviews war ich eher bereit, mich anschließend auf einen theoretischen Exkurs einzulassen.
Betroffene erzählen
Im zweiten Interview kommt Irmtraud Schnell zu Wort. Sie ist Sonderpädagogin, und eines ihrer Themen heißt „Integration“. Sie berichtet über sich, über die Herkunft ihrer Empathie für Kinder und über die Entstehung ihrer Motive, sich für die Integration von schwierigen Kinder in die Regelschule einzusetzen:
„Das Thema »Dazugehören« ist ein ganz tief verwurzeltes. Als Kind musste ich mich aus gesundheitlichen Gründen mehrmals für längere Zeit fern von meiner Familie aufhalten. Dieses Herausgerissensein, keinen festen Platz zu haben, was das heißt, kann ich Kindern nachfühlen. Es soll nicht sein, dass Kinder sich fragen müssen: »Wo gehöre ich eigentlich hin?«“ (S. 38).
Gerade die Verbindung von eigenem Wachstum, erlebten Enttäuschungen und Erfolgen, vom Finden eigener Wege und Ziele und dem Kampf gegen gesellschaftliche Strukturen habe ich als eine der größten Stärken des Buches empfunden. So wird nicht nur das eigene heroische Handeln herausgestellt, wie das aus zahlreichen Beispielen der früheren Arbeiterliteratur bekannt ist. Dort sollten leuchtende Beispiele vorgeführt werden, versehen mit dem moralischen Zeigefinger und dem Wissen um den „einzigen richtigen Weg“. In diesem Buch erzählen Betroffene von sich, ohne ständig „Wahrheiten“ verbreiten zu müssen.
In den weiteren Aufsätzen berichten die AutorInnen von der Leitungstätigkeit in reformpädagogischen Schulen, von Brennpunktschulen, Heimen und vom Widerstand gegen „gymnasiale Selbstverständlichkeiten“. Es würde zu weit führen, alle Interviews hier vorzustellen. Eines kann allerdings gesagt werden: Ich habe alle mit Spannung, Genuss und Betroffenheit gelesen.
„Skandal« –
Von Medien begleiteter Ungehorsam im Dienste der Bildung“ Der zweite Teil des Buches bleibt dem Schulamtsleiter a.D. Heinz Kreiselmeyer vorbehalten. Zunächst wird eine Chronologie seiner Disziplinarmaßnahme vorgestellt. Danach erzählt er im Interview von seiner Zeit als Seminarleiter und als leitender Schulamtsdirektor. Eine seiner wichtigsten Erkenntnisse:
„Es wäre schlimm, wenn du als Lehrer, Schulleiter oder Schulrat eines Tages gehen würdest und keiner würde merken, dass du gegangen bist. Eine gesichtslose Schule, ein gesichtloses Schulamt. Schlimm. Wenn du keine Spuren hinterlässt, hast du einen ganz wesentlichen Auftrag verfehlt. Es muss spürbar werden, dass es dich gab.“ (S. 193)
Heinz Kreislemeyer ließ sich in keinem seiner vielen Arbeitsbereiche verbiegen. Die Verfolgung seiner Person fußt nicht zuletzt auf dieser Haltung. Die Regierung von Mittelfranken ermittelte 27 Monate lang gegen ihn. Die Hintergründe der „Untersuchungen“ sieht er darin:
„Der Auslöser für die Ermittlungen lag offensichtlich in meinem Gesamtverhalten. Die Untersuchungen bezogen sich, mehr oder weniger verdeckt, auf meine öffentliche Kritik am System Schule, auf mein Eintreten für das Volksbegehren »Bessere Schule für Bayern«, meine öffentliche Darstellung einer rigiden bürokratischen Bildungsadministration und nicht zuletzt auf meine Aktivitäten in der Initiative Praktisches Lernen Bayern e.V. Als »persona non grata«, als »Rebell« sollte mir eine scharfe Lektion erteilt werden. Fortan wurden alle meine beruflichen Wege bis ins kleinste Detail untersucht und verfolgt.“ (S. 197)
Heinz Kreiselmeyer hat an der Macht der herrschenden Klasse gekratzt. Sein Bericht ist erschütternd. Zum Glück hat er alle Details akribisch gesammelt. Zum Glück auch konnten „sie“ ihn nicht brechen.
„Andere Länder – andere Sitten – Ungeheure Horizonte für die Bildung“
Im letzten Teil des Buches erzählen ein kanadischer Schulamtsdirektor, eine kanadische Schulleiterin und ein südafrikanischer Pädagoge und Widerstandskämpfer über den Kampf in ihren Ländern. Sicherlich überflüssig zu erwähnen, dass dort die Veränderungen auch keine Begeisterungsstürme hervorgerufen haben. Sobald einer den Mainstream der herrschenden Reaktionäre und Kleingeister verlässt, beginnt der alltägliche Kampf.
Fazit:
Dieses Buch bietet einen atemberaubenden Einblick in Inkompetenz, Peinlichkeiten und Unterdrückungsmechanismen im Schul- und Erziehungsbereich. Zwanghafte und ängstliche RektorInnen, kleingeistige Schulaufsichtspersonen und angepasste PolitikerInnen werden immer wieder beschrieben. Die Interviews ermöglichen weiterhin einen Blick hinter die Kulissen einer schäbigen Kultus- und Schulbürokratie. Wer glaubt, das Buch würde einem beim Lesen den letzten Nerv rauben, wenn man sich mit solchen
unglaublichen Vorgängen beschäftigt, irrt allerdings. Im Klappentext heißt es:
„Das Buch bietet Hilfen für den Umbau der Schulen und beschreibt an fassbaren Beispielen, wie das traditionelle Schulwesen ins Wanken kommt: Eine Kraftquelle für alle, die Schule verändern wollen.“
Bingo! Diese Kraftquelle erlebte ich beim Lesen von Kapitel zu Kapitel aufs neue. Es war weniger das Sammeln von Informationen über eine mögliche Veränderung verkrusterter Strukturen oder das Vorgehen gegen autoritäre Vorgesetzte. Nein. Die autentischen Schilderungen ließen mich teilhaben an politischen Kämpfen, Zweifeln und persönlichem Wachstum. Da gibt es Menschen, die sich mit Zuständen und Strukturen nicht abfinden konnten und wollten. Menschen, die sich durchgesetzt haben, nicht zerbrochen sind. Manchmal mussten sie klug handeln: Zwei Schritte zurück, bevor es wieder einen Schritt weiter gehen konnte. Aber sie sind gegangen. Aufrecht. Haben sich nicht verbiegen lassen. Haben für ihre Ideen und um ihren Platz, an dem sie arbeiteten und lebten, gekämpft. Die Lektüre war ein echter Gewinn!
Über den Autor:
Günther Schmidt-Falck, personzentrierter Coach und Konfliktberater, ist Webmaster des Magazins AUSWEGE und Geschäftsführer der GEW Ansbach.
Kontakt:
auswege@gmail.com
www.magazin-auswege.de
Ungehorsam im Schuldienst
Karl-Heinz Platte in NDS 4/2010
Ein bunter Strauß – vornehmlich praktischer – Erfahrungen und Ideen aus der Schule und für die Schule: Im ersten Kapitel werden zwölfnPädagogen aus dem Bildungsbereich interviewt. Anschaulich und spannend berichten sie aus ihrem pädagogischen Alltag. Versuche, gegen den verordneten Trott, gegen sinnlose Vorschriften und unsinnige Bevormundung anzugehen. Es wird gezeigt, wie Schule gelingen kann, wenn Lehrer es als ihre Aufgabe ansehen, pädagogisch verantwortungsvoll zu handeln, auch ohne „um Erlaubnis einzukommen“. Die (typisch deutsche) Angst vor Autoritäten ist nirgends so kontraproduktiv wie im Lehrerzimmer und im Klassenraum. Wer allerdings das Wohl des Kindes/des Jugendlichen an die erste Stelle setzt, hat auch in unserer Schule viele Möglichkeiten. Was im Umkehrschluss auch heißt: Da die überfällige Wende in der deutschen Schulpädagogik, in Schulpolitik und Schulstruktur, kaum zu erwarten ist, sind der einzelne Lehrer, das Pädagogen-Team, die Schule vor Ort gefordert, sinnvolle pädagogische Arbeit zu leisten, auch im Ungehorsam gegen überkommene Vorschriften. Die Beispiele der Interviewten machen dazu Mut, auch wenn sie ab und an ein wenig selbstgefällig daherkommen.
Zwischen die Interviews setzen Stähling und Wenders Exkurse, theoretische Hinweise, Überle- gungen und Ausblicke, die nicht immer einen unmittelbaren Bezug zu den Gesprächen haben.
Besonders eindringlich untermauern sie dabei die Notwendigkeit, unsere Schulen endlich inklusiv zu gestalten. Der zweite Teil des Buches ist dem „Fall“ des bayrischen Schulaufsichtbeamten a.D. Heinz Kreiselrneyer gewidmet. Nach der Chronologie seiner Disziplinierung durch die Regierung von MitteIfranken berichtet das CSU-Mitglied (!) Kreiselmeyer in einem Interview von seiner Arbeit als Schulamtsdirektor und Seminarleiter, vom vielfältigen „Druck von oben“ bei seinen Versuchen, Schule ohne übermäßige Rücksicht auf die rigide Bildungsadministration zum Wohl der Kinder zu gestalten.
Im letzten Kapitel kommen ein Hochschullehrer und eine Schulleiterin aus Kanada zu Wort. Ihre reformerischen Ansätze „von unten“ bewirkten letztendlich die Strukturänderung des kanadischen Schulsystems.
Zum Abschluss der Bericht von Prof. Dr. Neville Alexander, ehemaliger südafrikanischer Freiheitskämpfer und Mithäftling von Nelson Mandela, über Bildungsarbeit unter schwierigsten Bedingungen – im Gefangenenlager auf Robben Island. Seit Beendigung der Apartheid arbeitet Alexander als Direktor der Bildungsinstitution für alternative Pädagogik erfolgreich in seiner Heimat.
Fazit: Das Buch zeigt eine bunte Palette pädagogischer Möglichkeiten, nachahmenswerte Beispiele für den Schulalltag, wissenschaftliche Begründungen für überfällige Reformen, kleine Schritte und große Erfolge – lesenswert für jeden engagierten Pädagogen und Pflichtlektüre für die Schulaufsicht vom Schulrat bis zum Kultusminister.
Rezension in Lehrerbibliothek.de
Christian Prior
„Viva la revolucion! Hasta la victoria siempre!“ – so oder so ähnlich könnte man alle Personen, die in diesem Buch als Interviewpartner befragt werden, beschreiben.
Der Ungehorsam im deutschen Schuldienst scheint bereits im ganz kleinen anzufangen, sobald man nicht bürokratisch sondern menschlich oder pädagogisch anfängt zu denken. Allerdings schrecken die meisten dann doch vor der Maschienerie der Bürokratie zurück oder bangen, um ihren Job. Wie sonst lässt sich erklären, dass es dennoch nur so wenige bekannte Pädagogen gibt, die offen zu ihrem Ungehorsam im Schuldienst stehen.
Aus genau diesen Motiven handelten jedoch die Interviewpartner. Ihnen waren in den meisten Fällen die Konsequenzen ihres Handelns egal, bzw. hatten sie bereits genug Befürworte um sich gesammelt.
Die Interviews veranschaulichen sehr gut wie marode und inkonsequent das deutsche Schulwesen in vielen Fällen arbeitet.
Anhand des Beispiels „Lesehimmel“ wird dies sehr gut deutlich. Da schafft man es junge Schüler zum Lesen zu animieren, kostet die Stadt kein Geld für irgendwelche Baumaßnahmen, da man eine breite Elternschaft, mit Fachleuten aus bautechnischen Berufen, motivieren konnte einen sog. Lesehimmel zu konstruieren und zu bauen, und doch wird das ganz Projekt dann doch von jenen Stadtangestellten mit fadenscheinigen Ausflüchten, nach einer Betriebsdauer von mehreren Monaten, stillgelegt.
Nicht die Bildung der Schüler sondern finanzielle und wirtschaftliche Dinge stehen meist im Vordergrund. Politik sollte nicht über das wohl der Kinder entscheiden. Genau dies kann man als Grundtenor des Buches benennen.
Es öffnet einem die Augen für Möglichkeiten, sich im Schulalltag wieder auf das zu konzentrieren, worauf es sich zu konzentrieren lohnt. Die Schüler.
Leider kommt das Gymnasium, bzw. Lehrer an diesen Schulen nicht all zu gut bei diesen Interviews weg, obwohl es sich auch an diesen Schulformen und unter diesen Pädagogen einige gibt, die sehr ungehorsam arbeiten.
Fazit:
Absolutes Muss für jeden Pädagogen, der noch etwas verändern will!
Auszug
Rezension von Dr. Carl Rensinghoff, veröffentlicht in socialnet
Fazit Bildungsreformerinnen und -reformern und das gegenwärtige Bildungssystem Kritisierenden sei die Lektüre dieser Schrift wärmstens empfohlen. Wünschenswert wäre es, wenn es noch mehr querulatorische Psychopathen in der Bildungslandschaft gibt, die reformerisch und zum Wohle der zu Bildenden tätig werden.
Rezensison in
Zeitschrift für Heilpädagogik 12/2010
Ungehorsam im Schuldienst. Der praktische Weg zu einer Schule für alle
Ines Boban
Der Band 66 der Reihe »Grundlagen der Schulpädagogik« von Reinhard Stähling und Barbara Wenders verspricht eine Kraftquelle für alle zu sein, die Schule grundlegend verändern wollen. Denn dieses Buch beschreibt Hilfen für den Umbau von Schule, die das traditionelle Schulwesen ins Wanken bringen. Der Untertitel verrät die Zielperspektive: Die Schule für alle. Und der Weg dorthin führt, wie zahlreiche Beispiele im Band belegen, oft über den „Ungehorsam im Schuldienst“. Das Herausgeberteam ist selbst erprobt im Verändern von Schule. Reinhard Stähling ist Schulleiter der Grundschule Berg Fidel in Münster, Barbara Wenders ist dort als Sonderpädagogin im Gemeinsamen Unterricht tätig. 2006 erschien von ihm bereits im gleichen Verlag ein Band mit hohem Innovationspotential: »›Du gehörst zu uns‹ – Inklusive Grundschule. Ein Praxisbuch für den Umbau der Schule«. Nun folgt konsequenterweise eine die Kreise erweiternde Ermutigungs- und Inspirationsschrift, die viele »Zeugen« für die NOT-Wendigkeit aufrichtig aufrechten Handelns zu Wort kommen lässt. Fotografisch wird der entsprechende Blick hierfür von Donata Wenders unterstützt. Und schon das Inhaltsverzeichnis inspiriert:
Unter »I. ›Der steinige Weg‹ – Ungehorsam im Dienste der Bildung« erzählen neun PädagogInnen in unterschiedlichen Praxisfeldern von ihren widerständigen Praktiken (Gerhard Sennlaub, Irmtraud Schnell, Brigitte Schumann, Ada Fuest, Gertraud Greiling, Walter Hövel, Manfred Pollert, Raimund Patt, Astrid Kaiser).
Vertieft wird dies unter »II. ›Skandal!‹ – Von Medien begleiteter Ungehorsam im Dienste der Bildung«, wo die Chronologie des Disziplinierungsversuchs eines »anstößigen« Schulamtsleiters (Heinz Kreiselmeyer) erzählt wird.
Im »Teil III. ›Andere Länder – Andere Sitten‹ – Ungeheure Horizonte für die Bildung« wird der Blick geweitet, indem ein kanadischer Schulamtsdirektor und Hochschullehrer (Gordon Porter) und seine Kollegin, Schulleiterin in New Brunswick (Jean Collicott), über die Entwicklung zu einem vollständig inklusiven System einer ganzen Provinz berichten und der südafrikanische Pädagoge und Widerstandskämpfer Neville Alexander von der Bedeutung des gemeinsamen Lernens im Gefängnis auf Robben Island erzählt. Zwischen all diesen anschaulichen Beispielen, denen stets ein kurzer Steckbrief zur befragten Person voran steht und die quasi im Gespräch entwickelt werden, bieten die Herausgeberinnen eigene Reflexionen an, zum einen jeweils als Exkurs zu verschiedenen Aspekten – wie pädagogische Grundüberzeugungen, juristische Fragen, vermeintliche Norm-Selbstverständlichkeiten, »listig widerspenstige« Eltern oder psychologische Überlegungen zu »Flüchten oder Standhalten?«, und zum anderen als »Sammlung praxiserprobter Ungehörigkeiten«. Diese werden in eine Übersicht gebracht und unter den Rubriken »Alltagsnotwendigkeiten«, »Widersprüche/ Widerstände«, »langfristige Visionen« und »erste Ungehörigkeiten« in systematische Teilschritte zerlegt. Ein weiterer Exkurs zur Geschichte des Ungehorsams in Praxis und Theorie rundet die Schilderung der listigen und erfolgreichen Modelle zur lebbaren Veränderung von Schule(n) ab – und das macht die Lektüre so nährend: Real existierende Menschen erläutern die von ihnen gestaltete Praxis mit »guten Gründen« – analytisch, getragen von Werten und Emotionen. Das vorliegende Buch ist ein Gewinn für alle pädagogisch interessierten Menschen, die nicht auf »bess’re Zeiten warten« wollen, sondern jetzt das in Schulen tun möchten, was ihr Gewissen ihnen nahe legt, die aus den Alltagsnotwendigkeiten heraus langfristige Visionen entwickeln und – weil sie mit den Widersprüchen und Widerstände integrierend umgehen wollen – mit ersten Ungehörigkeiten beginnen, ohne den Nordstern einer Schule mit inklusiven Kulturen, Strukturen und Praktiken aus den Augen zu verlieren. Dabei ist dieser Band eine große Hilfe!
Reinhard Stähling, Barbara Wenders (2011):
Ungehorsam im Schuldienst. Der praktische Weg zu einer Schule für alle.
Katja Faulstich-Christ
„Ich war nicht mutiger als andere, ich war nur weniger feige.“
Gerhard Sennlaub
„Ungehorsam im Schuldienst“ – der Titel des 250 Seiten starken Buches von Reinhard Stähling und Barbara Wenders weckt sofort die Neugier der Leserin. Ungehorsam. Schuldienst. Sind das nicht zwei sich ausschließende, ja geradezu kontradiktorische Substantive? Der Untertitel lässt die Stoßrichtung des Ungehorsams erahnen: „Der praktische Weg zu einer Schule für alle“ – eine Schule für alle Schülerinnen und Schüler, die Begabten und Leistungsstarken, die Leistungsschwächeren und die stärker Förderbedürftigen (aus dem normalen Schulbetrieb ausgegrenzt als „Sonderschülerinnen und -schüler“), den Schülerinnen und Schülern, die aufgrund ihrer Herkunft schlechtere Startchancen haben oder denen gar aufgrund ihres unklaren Rechtsstatus als Flüchtlinge das Menschenrecht auf Bildung versagt wird. Dass auch die zweite Auflage des 2009 erstmals erschienenen Bandes immer noch hoch aktuell ist, möchte ich an einem Beispiel aus Hessen illustrieren: Am 25.2.2011 berichtet die Frankfurter Rundschau aus einer aktuellen Studie, dass die Zahl der Schulabbrecher in Hessen weiter ansteigt. 7 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss, wobei Förderschüler und die Schüler in Offenbach und Kassel besonders stark betroffen sind.
Was „Ungehorsam“ ist, wird von den Autoren nicht streng definiert, sondern die Bedeutung ist eher prototypisch im Band präsent: Ungehorsam als Verweigerung von Gehorsam gegenüber unsinnigen Rechtsvorschriften, Ungehorsam gegenüber der blind exekutierten Selektionsfunktion von Schule und Notengebung, Ungehorsam gegenüber vermeintlichen Sachzwängen. In diesem Sinne kann sich Ungehorsam ausdrücken als Einstellung und/oder praktisches Verhalten, kann öffentlich gemacht werden oder hinter geschlossenen (Klassen-)türen erfolgen, allein oder gemeinsam geplant oder situativ entstanden sein. Gemeinsam ist den Praxisbeispielen zivilen Ungehorsams aus verschiedenen Grundschulen, reformpädagogischen Einrichtungen und Brennpunktschulen sowie Heimen, dass sie verschiedenen, quasi von „oben“ verordneten Schulreformen vorausgehen.
Die besondere Qualität des Bandes stellt sich durch die Interviews ein, die die beiden Autoren in den Jahren 2007 bis 2009 mit 13 bekannten Schulreformen und -reformerinnen vorrangig aus Deutschland, aber auch aus Kanada und Südafrika, geführt haben: Gerhard Sennlaub, Irmtraud Schnell, Brigitte Schumann, Ada Fuest, Gertraud Greiling, Walter Hövel, Manfred Pollert, Raimund Patt, Astrid Kaiser, Heinz Kreiselmeyer, Gordon Porter, Jean Collicot und Neville Alexander. Die Darstellung selbst ist in drei Teile gegliedert:
Zunächst wird „»Der lange steinige Weg« – Ungehorsam im Dienste der Bildung“ (S. 9–171) vorgestellt, es folgt die Aufarbeitung eines in den Medien stark präsenten Fallbeispiels um den Schulamtsleiter Heinz Kreiselmeyer (S. 174–209), drittens wird dann den Bemühungen um eine inklusive Schule in Kanada (S. 213–227) und der Bildungsarbeit in südafrikanischen Gefängnissen zur Zeit der Apartheit nachgegangen (S. 241ff.). Zwischen den Interviewbeiträgen streuen die Autoren eigene als „Exkurse“ gekennzeichnete Beiträge, die zwar nicht im direkten inhaltlichen Zusammenhang mit den Interviews stehen, aber einige der dort gemachten Aussagen systematisieren bzw. weiterführen, insbesondere durch sehr hilfreiche tabellarische Übersichten zur Anregung eigener Reformtätigkeiten und Widerständigkeiten.
Für den Lesenden angenehm ist, dass er quasi nach Interesse quer durch das Buch lesen kann, die Beiträge folgen keiner festgelegten Reihenfolge.
Um es vorwegzunehmen: Alle Interviews bieten beeindruckende Beispiele für Zivilcourage gegenüber einer inhumanen Systemlogik – oftmals ungeachtet drohender Sanktionen und Konflikten mit Vorgesetzten, aber auch Kolleginnen und Kollegen und auch Eltern. Der biographische Zugang fesselt dabei besonders durch die unerschrockene Offenheit der Interviewpartnerinnen und -partner, die nicht mit moralischem Zeigefinger berichten, sondern sehr authentische Einblicke in ganz persönliche Erfahrungen und Konflikte geben (Es verwundert daher nicht, dass die Interviewten oftmals bereits dem Pensionsalter nahe oder bereits aus dem aktiven Schuldienst entlassen sind.) Die Betroffenheit, die sich beim Lesen einstellt, ist aber eine hoffnungsfrohe – trotz aller Widerstände sind Veränderungen möglich!
Aus der Fülle der gleichermaßen eindringlichen, ernüchternden wie ermunternden Lektüre der Einzelinterviews müssen aus Raumgründen zwei Beispiele praktischen Ungehorsams genügen:
Gerhard Sennlaub, ehemaliger Lehrer, Schulleiter und Schulamtsdirektor begründet ausführlich, was es heißt „vom Kind aus zu denken“ (S. 10), d.h. „pädagogisch anständig und vernünftig“ (ebd.) zu handeln. So lässt er zum Beispiel im Aufsatzunterricht die Kinder die Noten befinden (im Ansatz zumindest im Sinne von Schreibkonferenzen ein Element heutiger Feedbackkultur im Rahmen der prozessorientierten Schreibdidaktik), akzeptierend, dass die Noten mangelhaft oder ungenügend für die Kinder nicht existieren. Im Rechtschreibunterricht unterläuft er ebenfalls die Ausschöpfung der vollen Notenskala. Dem Benotungszwang werden auch von anderen interviewten Schulreformern etwa Maßnahmen wie Bewertungsgutachten mit Förder- und nicht Defizitorientierung entgegengehalten, wie sie teilweise dann schulrechtlich im Nachhinein auch abgesegnet wurden. Als Pädagoge macht er sein Vorgehen den Eltern transparent, zwingt es aber keinem Kollegen und keiner Kollegin auf. In einer Stadt hat er in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung eine Sonderschule für Lernbehinderte aufgelöst. Besonders aufschlussreich war für mich, dass (nicht nur) Sennlaub den Prozess von Schulreformen als Weg von unten nach oben kennzeichnet (vgl. z.B. S. 15f.), d.h. Praxisveränderungen aufgrund ihrer Notwendigkeit angedacht, erprobt, durchgeführt und verbreitet werden (so etwa das Freie Arbeiten und das Arbeiten nach Wochenplan) – Neuerungen und Veränderungen der Schulkultur, die dann im Nachhinein durch Schulreformen verbindlich oder zumindest legitimiert werden.
Gertraud Greiling, Gründerin des Gievenbecker Projekts und ehemalige Schulleiterin der Wartburgschule, berichtet von ihren Reformbemühungen und rät, Reformen immer schrittweise und in angemessenem Tempo anzugehen. Ihre Ganztagsschule beginnt mit Spendengeldern, die den Einsatz einer Erzieherin mit einer halben Stelle ermöglichten, führte über die Abschaffung bzw. Umgestaltung einer Hausaufgabenpraxis, die die leistungsschwächeren Kinder benachteiligte und erforderte gelegentliche Mogeleien wie das Einüben von Diktaten, die eigentlich ungeübt geschrieben werden sollen. Manches hat kafkaeske Züge, etwa wenn sie für ihre Schule vom Schulamt Teppiche wünscht und die zerschlissenen Altbestände von einem Gymnasium erhält, das gerade einen neuen Teppich bekam. Den Kampf um jede einzelne Ressource, vom Einsatz eines Zivildienstleistenden bis hin zur Ausstattung der Räume schildert sie mit viel Humor und Augenzwinkern – sie habe immer für die Menschen, nicht gegen die Menschen gestritten. Aufschlussreich sind auch ihre Erinnerungen an die Praxis der Notenvergabe – so wurden in ihrer Klasse Lernentwicklungsberichte angelegt, die den Schülerinnen und Schülern eine differenzierte Rückmeldung geben sollten und die große Zustimmung bei den Eltern fanden. Für die weitere Schullaufbahn sei dies nicht hinderlich, sondern im Gegensatz förderlicher gewesen als reine Noten. Denn ihre Schüler wollten wissen, warum sie nun genau eine vier erhalten hatten, d.h. was sie noch üben könnten, wo genau sie nacharbeiten mussten usw.
Wie aus der vorangegangenen Besprechung hervorgeht, halte ich das Buch für außerordentlich lesenswert und möchte es Studierenden wie Referendaren, jungen wie gestandenen Lehrerinnen und Lehrern und Ausbilder/-innen wie auch allen mit Schule befassten Personen in der Kultusbürokratie und darüber hinaus sehr empfehlen. Einige ungeklärte Fragen bzw. Ratlosigkeiten am Ende der Lektüre seien aber nicht verschwiegen: Die von den Schulreformern und -reformerinnen angestoßenen Veränderungen der Schulkultur sind beeindruckend und ausnahmslos auf die Bildung und die Würde der Schülerinnen und Schülern gerichtet.
Die versammelten tabellarischen Übersichten liefern Praxisanregungen und -anleitungen zum Handeln – allein oder im Verbund mit Gleichgesinnten, Eltern usw. Wie aber ist die weitere Schulentwicklung machbar? Besteht sie in der Summe von einzelnen, verantwortungsvoll durchgeführten Praxisänderungen und Widerständigkeiten gegenüber Bestehendem und bestehendem Unsinn durch besonders engagierte, quer denkende Lehrerinnen und Lehrer?
Ist die „Schule für alle“ erreichbar – wenn nicht die grundsätzliche Frage des Schulsystems diskutiert wird und strukturelle Veränderungen realisiert werden? Sollen sich derartige Veränderungen der Schulkultur in einem bundeseinheitlichen Rahmen vollziehen oder bleibt es bei schulspezifischen, regionalen bis länderweiten Regelungen? Verdeckt der Ruf nach Eigeninitiative und Engagement der einzelnen Kolleginnen und Kollegen nicht grundlegende strukturelle Defizite und Machtstrukturen, die Veränderungen durch den Souverän bedürfen – den Bürgerinnen und Bürgern, die über die Schule entscheiden müssen, die sie wollen? Und – inwiefern bieten oder verhindern die Konkretisierungen der Bildungsstandards in den Bundesländern als Schulreform „von oben“ Möglichkeiten hin zur „Schule für alle“?
Bleibt zu hoffen, dass der in den versammelten Beiträgen geschilderte Wandel hin zu einer humanen, alle Schülerinnen und Schüler fördernden und respektierenden Schule, weitergeht und die Diskussion um die grundsätzlichen Strukturveränderungen verstärkt, wie etwa die Auflösung der Selektionslogik der Sonderpädagogik. Das Buch ist hierfür eine unschätzbare Inspirationsquelle.
Was wir von heutigen Schulreformern lernen können
„Auf dieses Buch habe ich schon seit vielen, vielen Jahren gewartet und sicherheitshalber schon mal einen Platz im Regal freigehalten. Ich wusste, es wird eines Tages erscheinen. Wahrscheinlich hat es die Zeit gebraucht, bis sich Autorinnen gefunden haben, um mit ihrer ,Geschichte? an die Öffentlichkeit zu gehen. Barbara Wenders und Reinhard Stähling ist es zu verdanken, dass dieses Werk über ,Akte des Ungehorsams‘ das Licht der Öffentlichkeit erblickte.“
So beginnt die Rezension von Günther Schmidt-Falck im online-Magazin „Auswege“ und schließt mit dem Fazit: „Dieses Buch bietet einen atemberaubenden Einblick in Inkompetenz, Peinlichkeiten und Unterdrückungsmechanismen im Schul- und Erziehungsbereich. Zwanghafte und ängstliche Rektorinnen, kleingeistige Schulaufsichtspersonen und angepasste Politikerinnen werden immer wieder beschrieben. Die Interviews ermöglichen weiterhin einen Blick hinter die Kulissen einer schäbigen Kultus- und Schulbürokratie. Wer glaubt, das Buch würde einem beim Lesen den letzten Nerv rauben, wenn man sich mit solchen unglaublichen Vorgängen beschäftigt, irrt allerdings. Im Klappentext heißt es: ,Das Buch bietet Hilfen für den Umbau der Schulen und beschreibt an fassbaren Beispielen, wie das traditionelle Schulwesen ins Wanken kommt: Eine Kraftquelle für alle, die Schule verändern wollen? Bingo! Diese Kraftquelle erlebte ich beim Lesen von Kapitel zu Kapitel aufs Neue.“
Auch Christian Prior ist begeistert von den heutigenSchulreformern und schreibt in „Lehrerbibliothek.de“: ,Viva la revolucion! Hasta la victoria siempre!? – so oder so ähnlich könnte man alle Personen, die in diesem Buch als Interviewpartner befragt werden, beschreiben.“ Und er resümiert wie viele andere Rezensenten: „Absolutes Muss für jeden Pädagogen, der noch etwas verändern will!“
Was fasziniert so viele Leser an den klaren,ungeschminkten Worten z. B. des ehemaligen Schulrates Gerhard Sennlaub oder der ehemaligen Schulleiterin der Wartburgschule Münster? „Die authentischen Schilderungen ließen mich teilhaben an politischen Kämpfen, Zweifeln und persönlichem Wachstum. Da gibt es Menschen, die sich mit Zuständen und Strukturen nicht abfinden konnten und wollten. Menschen, die sich durchgesetzt haben, nicht zerbrochen sind. Manchmal mussten sie klug handeln: Zwei Schritte zurück, bevor es wieder einen Schritt weiter gehen konnte. Aber sie sind gegangen. Aufrecht. Haben sich nicht verbiegen lassen. Haben für ihre Ideen und um ihren Platz, an dem sie arbeiteten und lebten, gekämpft. Die Lektüre war ein echter Gewinn!“ (Günther Schmidt-Falck)
„Lesenswert für jeden engagierten Pädagogen und Pflichtlektüre für die Schulaufsicht vom Schulrat bis zum Kultusminister“, so Karl-Heinz Platte.
2011, schon ein Jahr nach seinem Erscheinen, liegt das Buch „Ungehorsam im Schuldienst“ in leicht verbesserter und erweiterter 2. Auflage vor – ein Zeichen für seine hohe Aktualität. Anspornende Rückmeldungen erreichten die Autoren von leitenden Ministerialbeamten, führenden Wissenschaftlern, von Menschenrechtsinitiativen, von Behindertenvertretern und von etlichen sogenannten „einfachen“ Lehrern, die eigentlich – wenn man die 13 interviewten Schulreformer richtig versteht die Helden dieses Buches sind.
Im Jahr 2010 bekam sogar ein scheidender Schulleiter in einer westfälischen Ortschaft „Ungehorsam im Schuldienst“ als Abschiedsgeschenk von der Schulaufsicht – so in einem anerkennenden Beitrag der Westfälischen Nachrichten“ zu lesen. Ungehorsam als konsequentes Handeln von Beamten, die auf die Verfassung vereidigt wurden! Ein kleines Symbol der Hoffnung.
*) Reinhard Stähling, Barbara Wenders Ungehorsam im Schuldienst. Der praktische Weg zu einer Schule für alle, 2. Auf!., Baltmannsweiler (Schneider Verlag Hohengehren) 2011, 256 S., € 19,80
Der Autor: Dr. Reinhard Stähling, Leiter der Grundschule Berg Fidel in Münster
© 2011 Prof. i.R. Dr. Reimer Kornmann
Unterrichtspraktische Impulse für Inklusion
(Referat bei der Teilpersonalversammlung des Staatlichen Schulamts Mannheim am 29.03.2011 in Mosbach)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr wahrscheinlich werden Sie meine Ausführungen mit sehr unterschiedlichen Erwartungen aufnehmen und verarbeiten. Dies ist sicher abhängig von Ihrer Lebensgeschichte, die stark von Ihren Erfahrungen mit Schule und Unterricht – sowohl in Ihren Rollen als Lernende wie auch als Lehrende – geprägt sein dürfte.
Diese Prägungen durch schulbezogene Erfahrungen fallen bei Ihnen vermutlich recht unterschiedlich aus. Auf diese Unterschiede gehe ich aber nicht weiter ein, sondern ich will in einem ersten Abschnitt versuchen, Ihre gemeinsamen Erfahrungen zu umreißen. Diese Erfahrungen haben viel mit dem Thema Inklusion zu tun – wenn auch mit eher negativem Vorzeichen. Immerhin können daran wichtige Erkenntnisse anknüpfen, die zum Verständnis des sehr schillernden Begriffs der Inklusion beitragen.
Inklusion ist ja vor ziemlich genau zwei Jahren in Deutschland, nämlich am 26. März 2009, zu einem wichtigen bildungspolitischen Thema geworden, weil hier an diesem Tage die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten ist. Bekanntlich verpflichtet sie die Vertragsstaaten, ein inklusives Schulsystem auf allen Ebenen zu schaffen. Die Frage, was unter Inklusion zu verstehen ist und welche Chancen sich hieraus für die Weiterentwicklung des Schulwesens ergeben, möchte ich im zweiten Abschnitt meiner Ausführungen behandeln.
In diesem soll deutlich werden, dass entscheidende Schritte auf dem Weg zu einem inklusiv ausgerichteten Schulsystem nur in der Überwindung separierender Strukturen und Mechanismen bestehen können. Diesen Meilenstein haben viele europäische Länder, vor allem aber Kanada und die USA, schon seit längerem hinter sich gelassen. Bei solchen internationalen Vergleichen wird deutlich, wie eng der Rahmen im deutschen Bildungssystem für eine inklusive Unterrichtspraxis gezogen ist. Daraus ergibt sich die Frage, ob und wie dennoch Elemente einer inklusiv orientierten Unterrichtsgestaltung unter den derzeit gegebenen Bedingungen entwickelt werden können. Dieser Frage möchte ich in einem dritten Abschnitt anhand eines praktischen Beispiels nachgehen.
1. Gemeinsame Erfahrungen deutscher Lehrerinnen und Lehrer
Uns alle verbindet zumindest ein wichtiges Merkmal, das uns von der Mehrzahl unserer deutschen Zeitgenossen deutlich abhebt: Wir haben den höchsten Bildungsabschluss – bzw. ein entsprechendes Äquivalent dafür – erreicht, den das deutsche Schulwesen zu vergeben hat – egal, wie leicht oder schwer dieses im Einzelfall auch gewesen und wie gut der jeweilige Notendurchschnitt letztendlich auch ausgefallen sein mag. Man kann auch sagen, dass wir alle Hürden des Schulsystem – wenn auch vielleicht nicht immer beim ersten Anlauf – erfolgreich übersprungen (oder vielleicht auch unterlaufen) und somit einen durchaus privilegierten Status in der Gesellschaft erreicht haben. Mit Recht dürfen manche von uns hierauf stolz sein, insbesondere dann, wenn sie diesen schulischen Erfolg trotz widriger Bedingungen und dank besonderer Anstrengungen erkämpft oder ihn mit List und Tücke errungen haben.
Letztendlich aber verdanken wir unseren Erfolg auch unseren Konkurrentinnen und Konkurrenten, die entweder an den Kriterien des höchsten schulischen Erfolgs gescheitert sind oder sich diesen Kriterien aus verschiedenen Gründen nicht gestellt haben oder nicht stellen konnten.
Ich halte diesen Aspekt schulischen Erfolgs für grundlegend. Zugleich vermute ich, dass er vielen von uns so selbstverständlich, ja geradezu so trivial erscheinen mag, dass er kaum artikuliert, geschweige denn gründlich hinterfragt wird. Hinzu kommt die Tatsache, dass man verständlicherweise leicht und gern dazu neigt, Kriterien, die einen selbst begünstigen, stillschweigend zu akzeptieren und vor Kritik in Schutz zu nehmen. Diese Kriterien, allen voran die versetzungsrelevanten steuernden Noten, bilden die Mechanismen des ausleseund wettbewerbsorientierten Bildungswesens. Wir selbst sind Nutznießer dieser Mechanismen, und daher kann uns zunächst einmal eine gut nachvollziehbare, lebensgeschichtlich sinnvoll begründete Loyalität zu unserem Schulsystem unterstellt werden. Ist es doch verständlich, dass man den Sinn und die Berechtigung von Regeln, die einen selbst begünstigen oder begünstigt haben, nur sehr ungern in Zweifel zieht und eigentlich nur solche Bedingungen ändern möchte, die einen selbst benachteiligen oder behindern.
Diese Loyalität zum Schulsystem ist vielleicht während der Studienzeit bei dem einen oder der anderen von uns durch kritische wissenschaftliche Impulse mehr oder weniger stark ins Wanken geraten, letztlich ist es aber verständlich, wenn diese loyale Einstellung, bedingt auch durch die Erfahrungen im Referendariat, weitgehend in die Dienstzeit „hinüber gerettet“ und dort eher noch gefestigt als erschüttert wurde. Je stärker nun diese Loyalität bei jeder einzelnen Lehrperson ausgeprägt ist, desto schwerer wird es für sie sein, sich mit alternativen schulorganisatorischen und pädagogischen Konzepten interessiert, offen und konstruktiv auseinander zu setzen. Diese Aussage mag etwas ironisch klingen, doch so ist sie keinesfalls gemeint. Sie umschreibt vielmehr einen sinnvollen Kerngedanken mit wahrscheinlich hohem Erklärungswert, und sie nimmt dabei
Bezug auf eine wichtige gesellschaftspolitische Kategorie, die der Privilegierung. Sie ist zentral für den Begriff der Inklusion.
2. Zum Begriff der schulischen Inklusion
Beim Begriff der schulischen Inklusion sind zwei Aspekte voreinander zu unterscheiden: der schulorganisatorische und der unterrichtspraktische.
Der schulorganisatorische Aspekt beinhaltet der Idee nach, dass auf jede Form von Auslese und Separierung verzichtet wird. Auslese und Separierung sind eng verbunden mit der vertikalen Gliederung unseres Bildungssystems. Dazu eine Anmerkung: Üblicherweise ist von dem dreigliedrigen Schulsystem die Rede, jedoch existieren zusätzlich zwei der Sonderpädagogik zugeordnete Schulformen mit noch geringer eingeschätzten Abschlüssen: nämlich die Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen – vormals Sonderschule für Lernbehinderte – und die Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung – vormals Sonderschule für Geistigbehinderte. Den fünf Niveaustufen entsprechen also verschiedene Abschlüsse von jeweils unterschiedlichem Wert für die weitere Lebensgestaltung. Die verschiedenen Möglichkeiten zur Wahrnehmung sozialer Chancen (Stichwort Qualifikation) und der Persönlichkeitsentfaltung (Stichwort Bildung) müssen hier nicht im Einzelnen erörtert werden, es genügt zu erkennen, dass es viele gute Gründe gibt, den höchstmöglichen schulischen Bildungsabschluss anzustreben und die minderen zu meiden. Wer jedoch im Wettbewerb um die begehrenswerten Plätze im Schulsystem ins Hintertreffen gerät, könnte dies als Ausschluss oder Diskriminierung empfinden – ein Zustand also, der das Gegenteil von Inklusion umschreibt.
Nun kann aber ein gesellschaftlichen Zustand, in dem Privilegierung und Diskriminierung herrschen, nur aufrecht erhalten werden, wenn ihn sowohl die benachteiligten als auch die bevorzugten Menschen als gerecht und gerechtfertigt, eben als „normal“, erleben können. Die ideologische Stütze hierfür bietet die Theorie der angeborenen Begabungsunterschiede, und als Instrument ihrer Feststellung dienen die Zensuren in Form von Ziffern-Noten. Sie bilden den Kern der Diskriminierung und verhindern grundsätzlich alle weiteren Entwicklungen auf dem Weg zur Inklusion.
Eine etwas differenziertere Betrachtung ist jedoch bei Menschen mit Beeinträchtigungen ihrer Sinnestüchtigkeit, ihrer sprachlichen und motorischen Fähigkeiten und mit sozial-emotionalen Problemen angebracht: In Deutschland werden sie zu großen Teilen in eigens dafür eingerichteten Sonderschulen oder – nach aktueller Terminologie – in Förderschulen unterrichtet. Zur Analyse ihrer Situation greift die Kategorie der Privilegierung nur bedingt: Die entsprechenden Einrichtungen sind meistens personell und materiell relativ gut ausgestattet, was ja durchaus anerkennenswert ist. Die schulorganisatorische Separierung wird damit begründet, dass nur eine auf die jeweilige Beeinträchtigung zugeschnittene spezielle pädagogische Förderung in eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen die bestmögliche Entwicklung gewährleiste.
Eine solche Begründung lässt sich jedoch weder mit pädagogischen Argumenten, noch mit den Ergebnissen praktischer Erfahrungen und empirischer Forschung halten – zumindest nicht in dieser absoluten Form. Die Idee der Inklusion würde für junge Menschen mit Beeinträchtigungen beinhalten, dass ihnen die gleichen Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten geboten werden wie solchen Kindern, die keine Beeinträchtigungen aufweisen, und dass sie dabei alle Hilfen erhalten, die für die Ausbildung ihrer Entwicklungspotenziale erforderlich sind. Dies geschieht am besten in einer Schule für alle.
Dieser Gedanke leitet nun über zum schulpädagogischen Aspekt von Inklusion.
Es genügt, wenn ich diesen hier nur sehr grob skizziere, hängen doch alle wesentlichen Merkmale von einem entscheidenden Kriterium ab, dem schon angesprochenen Verzicht auf Ziffern-Noten.
Eine inklusiv orientierte pädagogische Praxis
- geht von der normalen Vielfalt pädagogisch bedeutsamer Merkmale der Schülerinnen und Schüler aus,
- betont die Chancen, die sich hieraus für gemeinsame Lern- und Entwicklungsprozesse ergeben, indem sie die Unterschiede der Lernvoraussetzungen und Lernerfahrungen als Bedingung wechselseitiger Anregungen und Unterstützungen nutzt, und damit auf kooperative Lernformen setzt,
- bevorzugt Inhalte und Formen schulischer Lernangebote, welche die unterschiedlichen Begabungen aller Lernenden und deren biografisch bedingte Erfahrungshintergründe respektieren,
- ersucht zugleich aber auch, ungünstig wirkenden Milieueinflüssen oder Erfahrungsdefiziten einzelner Kinder wirksam zu begegnen und ihre negativen Folgen auszugleichen, wozu sicherlich in vielen Fällen Unterstützung durch Schulsozialarbeit erforderlich ist.
- fordert von jedem Kind ein Höchstmaß seiner Lernleistungen – gemessen an dessen individuellen Möglichkeiten.
Diese idealen Merkmale einer inklusiven Unterrichtsgestaltung lassen sich am ehesten und am besten in einem zensurenfreien Raum verwirklichen, mehr noch: Wer sich konsequent an ihnen orientiert, stellt die Ordnungsprinzipien unseres Schulsystems, zumindest im Bereich des öffentlichen Schulwesens, in Frage. Allerdings lassen sich solche subversiven Gegenbewegungen, die über die eng gezogenen Grenzen pädagogischen Denkens und Handelns hinausweisen, auch in der unterrichtspraktischen Realität hin und wieder finden. Entsprechende Beobachtungen und Berichte können denjenigen Mut machen, die sich für eine inklusive Pädagogik engagieren, und sie bieten vielleicht denjenigen, die sich damit noch nicht intensiv auseinandergesetzt haben, neue Perspektiven. Daher möchte ich abschlie§end ein praktisches Beispiel anführen, das an die Überlegungen und Analysen zur Leistungsbeurteilung anknüpft.
3. Beispiel für eine inklusiv gestaltete Unterrichtssequenz
Das nachfolgend dargestellte Beispiel wurde im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung, an der ich mich im Rahmen meiner Aufgaben an der Pädagogischen Hochschule beteiligte, gewonnen – und zwar bereits gegen Ende der 70er Jahre. Es lässt aber bereits bildungspolitische und bildungstheoretische Perspektiven erkennen, die meines Erachtens aktuell und richtungsweisend für die Entwicklung inklusiver pädagogischer Konzepte sind.
Ich beobachtete einen Studenten bei einer Rechenstunde. Er stellte den Kindern Aufgaben, die im Kopf zu lösen waren und ging dabei durch die Bankreihen. Dabei achtete er auf die Kinder, die sich meldeten und ließ sich von ihnen die Lösung ins Ohr flüstern. Nachdem alle Kinder, die sich gemeldet hatten, auch berücksichtigt worden waren, ließ er zunächst die Aufgabe wiederholen und rief danach gezielt bestimmte Kinder auf, die Lösung zu sagen und zu wiederholen.
Es waren immer richtige Lösungen, und sie wurden auch und gerade von den leistungsschwachen Kindern eingebracht.
Für diese als schwächer geltenden Kinder mag es ein besonders wohltuendes Erlebnis gewesen zu sein, mit richtigen Lösungen identifiziert zu werden und hierfür Anerkennung zu erhalten – so wie für alle anderen auch. Durch die Wiederholungen der richtigen Lösungen im Zusammenhang mit der erneut vorgegebenen Aufgabenstellung ergaben sich auch Lerngelegenheiten für diejenigen Kinder, die die Aufgabe falsch oder gar nicht gelöst hatten, ohne dass sie dabei negativ vor der Klasse auffielen oder gar bloß gestellt wurden. Gleichwohl war es aber dem Lehrer möglich, solche Schwierigkeiten zu erkennen, um sich für das nächste Mal gezielte Hilfen und Erleichterungen zu überlegen. Keinesfalls war also die Unterrichtssituation für irgendwelche Kinder, die bestimmte Schwierigkeiten hatten, beängstigend. Ihre Schwierigkeiten wurden zwar von dem Lehrer erkannt, fielen aber ansonsten nicht auf.
Gehen wir mit der Analyse dieses Beispiels nun noch einen Schritt weiter, nämlich – wie schon angedeutet – in den Bereich der Bildungspolitik und der Bildungstheorie.
Der Student hat nämlich mit diesem beschriebenen Unterrichtsausschnitt ein kleines, aber gut erkennbares Stück Widerstand geleistet gegen die Logik der ausleseorientierten Schulsystems. So lange nämlich die Leistungen der Kinder mit Noten bewertet werden und so lange die Noten ausschlaggebend für das Weiterkommen und Zurückbleiben im System sind, so lange wird von allen Lehrkräften erwartet, dass sie die Noten nach gerechten Maßstäben und anhand transparenter Kriterien vergeben. So hätte es beispielsweise der Logik des Systems entsprochen, allen Kindern etwa gleich viele Aufgaben mit jeweils annähernd gleicher Schwierigkeit zu stellen und alle Kinder in etwa gleicher Häufigkeit ihre Lösungen sagen zu lassen. Im Sinne des Prinzips der Gerechtigkeit hätte so jedes Kind gleiche Chancen erhalten, und die Bekanntgabe der Lösung vor der ganzen Klasse hätte dem Prinzip der Transparenz entsprochen. Auf diese Weise wären erkennbare interindividuelle Leistungsunterschiede erzeugt worden, die klare Einteilungen ermöglichen:
Beobachtungen dieser Art hätte der Lehrer registrieren und in seine Urteilsbildung über die Note in Mathematik einfließen lassen können.
Auf diese Prinzipien der ausleseorientierten Gerechtigkeit und Transparenz hat nun aber der Student zugunsten eines pädagogischen Prinzips, das humanen Bildungsvorstellungen verpflichtet ist, verzichtet.
Auch wenn das Beispiel nur ein winziges Geschehen innerhalb der gesamten Bildungslandschaft darstellt, so lässt es doch erkennen, dass Widerständigkeit des Denkens und Handelns im Bereich der Pädagogik nicht nur möglich ist, sondern auch mit guten pädagogischen Argumenten vertreten werden kann. Insofern stellt es die Logik der bildungspolitisch gewollten Aussonderung ein kleines Stück in Frage. Zugleich zeigt das Beispiel, dass sich der Lehrer – zumindest in der geschilderten Situation – von den üblichen Erwartungen und Vorgaben der Ausleseorientierung befreit und insofern einen Ansatz von Widerständigkeit und Mündigkeit gezeigt hat. Das sind nun Persönlichkeitsmerkmale, die dem Gedanken der Bildung im Sinne von Heinz-Joachim Heydorn (1916–1974) durchaus nahe kommen1 (Heydorn, 1979).
Vielleicht wird das heute kaum noch bekannte, aber sehr tragfähige und umfassende Werk von Heydorn mit dem Konzept der Inklusion wieder aktuell.
Anlass zu entsprechender Hoffnung gibt ein wunderbares, spannend zu lesendes Buch mit authentischen Berichten und Interviews mutiger, fantasievoller und weitsichtiger Schulleute, auf das ich Sie gerne empfehlend hinweisen möchte.
Der Titel: „Ungehorsam im Schuldienst – Der praktische Weg zu einer Schule für alle“, herausgegeben von Reinhard Stähling und Barbara Wenders, erschienen 2011 in 2. Auflage im Schneider Verlag Hohengehren.
1 Siehe Heydorn, H.-J. (1979): Der Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Heydorn war ein überzeugter Gegner jedweder Auslese, die das hierarchisch gegliederte Schulsystem in Deutschland begründet.
Karl-Heinz Platte in nds 4-2010
Ungehorsam im Schuldienst
Der praktische Weg zu einer Schule für alle
Ein bunter Strauß – vornehmlich praktischer – Erfahrungen und ideen aus der Schule und für die Schule:
Im ersten Kapitel werden zwölf Pädagogen aus dem Bildungsbereich interviewt. Anschaulich und spannend berichten sie aus ihrem pädagogischen Alltag. Versuche, gegen den verordneten Trott, gegen sinnlose Vorschriften und unsinnige Bevormundung anzugehen. Es wird gezeigt, wie Schule gelingen kann, wenn Lehrer es als ihre Aufgabe ansehen, pädagogisch verantwortungsvoll zu handeln, auch ohne „um Erlaubnis einzukommen“. Die (typisch deutsche) Angst vor Autoritäten ist nirgends so kontraproduktiv wie im Lehrerzimmer und im Klassenraum. Wer allerdings das Wohl des Kindes/des Jugendlichen an die erste Stelle setzt, hat auch in unserer Schule viele Möglichkeiten. Was im Umkehrschluss auchheißt: Da die überfällige Wende in der deutschen Schulpädagogik, in Schulpolitik und Schulstruktur, kaum zu erwarten ist, sind der einzelne Lehrer, das Pädagogen-Team, die Schule vor Ort gefordert, sinnvolle pädagogische Arbeit zu leisten, auch im Ungehorsam gegen überkommene Vorschriften. Die Beispiele der Interviewten machen dazu Mut, auch wenn sie ab und an ein wenig selbstgefällig daherkommen.
Zwischen die Interviews setzen Stähling und Wenders Exkurse, theoretische Hinweise, Überlegungen und Ausblicke, die nicht immer einen unmittelbaren Bezug zu den Gesprächen haben.
Besonders eindringlich untermauern sie dabei die Notwendigkeit, unsere Schulen endlich inklusiv zu gestalten.
Der zweite Teil des Buches ist dem „Fall“ des bayrischen Schulaufsichtbeamten a.D. Heinz Kreiselmeyer gewidmet. Nach der Chronologie seiner Disziplinierung durch die Regierung von Mittelfranken berichtet das CSU-Mitglied (!) Kreiselmeyer in einem interview von seiner Arbeit als Schulamtsdirektor und Seminarleiter, vom vielfältigen „Druck von oben“ bei seinen Versuchen, Schule ohne übermäßige Rücksicht auf die rigide Bildungsadministration zum Wohl der Kinder zu gestalten.
Im letzten Kapitel kommen ein Hochschullehrer und eine Schulleiterin aus Kanada zu Wort. Ihre reformerischen Ansätze „von unten“ bewirkten letztendlich die Strukturänderung des kanadischen Schulsystems.
Zum Abschluss der Bericht von Prof. Dr. Neville Alexander, ehemaliger südafrikanischer Freiheitskämpfer und Mithäftling von Nelson Mandela, über Bildungsarbeit unter schwierigsten Bedingungen – im Gefangenenlager auf Robben Island. Seit Beendigung der Apartheid arbeitet Alexander als Direktor der Bildungsinstitution für alternative Pädagogik erfolgreich in seiner Heimat.
Fazit: Das Buch zeigt eine bunte Palette pädagogischer Möglichkeiten, nachahmenswerte Beispiele für den Schulalltag, wissenschaftliche Begründungen für überfällige Reformen, kleine Schritte und große Erfolge – lesenswert für jeden engagierten Pädagogen und Pflichtlektüre für die Schulaufsicht vom Schulrat bis zum Kultusminister.