„Denn wovon sonst, wenn nicht vom Elternhaus, soll Bildung abhängen?“ (Klaus Zierer) – Brandgefährliche Thesen eines Pädagogen zur „Ungleichheit“, in SZ vom 14./15.09.2024

In ZFI – Zeitschrift für Inklusion

Reinhard Stähling & Barbara Wenders

Abstract: Der These von Klaus Zierer, Bildung sei nahezu allein vom Elternhaus abhängig, wird widersprochen. Aus der eigenen Schulpraxis und aus der Forschung ist belegbar, dass effektiver Unterricht mit Kindern und Jugendlichen aus den diskriminierend gelesenen sogenannten „bildungsfernen“ Elternhäusern gut möglich ist und eine hohe Sinnerfüllung im pädagogischen Handeln mit sich bringt (Stähling & Wenders, 2021; Stähling, 2025). Es kommt vor allem darauf an, dass eine Schule die nötigen Strukturen selbstständig aufbaut.
Stichwörter: soziale Ungleichheit, didaktische Modelle/Konzepte für inklusive Schule, Inklusion/Exklusion
Zitation: Stähling, Reinhard & Wenders, B. (2024): „Denn wovon sonst, wenn nicht vom Elternhaus, soll Bildung abhängen?“ (Klaus Zierer) – Brandgefährliche Thesen eines Pädagogen zur „Ungleichheit“, in SZ vom 14./15.09.2024. Zeitschrift für Inklusion, 19(5), 127–141. https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/818

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

  1. Eigene Erfahrungen: Bildung im sozialen Brennpunkt hängt vom Unterricht ab
  2. Hattie: Bildung hängt von Unterricht ab
  3. Bildung hängt von Klassengemeinschaft und schulinterner Struktur ab
  4. Bildung hängt von Wertschätzung ab
  5. Bildung hängt von der Schulleitung ab
  6. Bildung hängt von der einzelnen Schule ab

Literatur

Kontakt

Einleitung
In der Debatte um die Beanspruchungen der Schule durch gesellschaftliche Herausforderungen wird häufig vorgetragen, dass in den letzten Jahren die Aufgaben der Schule zunehmend schwerer geworden wären. Zugleich fehlten Ressourcen an Personal und Konzepten, um der wachsenden Heterogenität in den Schulklassen gerecht werden zu können. Das Gefühl der Ohnmacht breite sich in den Kollegien aus.
Klaus Zierer äußert sich in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung zur Problemlage. Als Professor für Pädagogik und Ordinarius in Augsburg verbreitet er dabei wissenschaftlich nicht haltbare Thesen in der SZ vom 14./15. September 2024 unter der Rubrik Meinung.

Titel: „Ungleichheit – Die Schule soll Wirtschaft am Laufen halten, die Gesellschaft verbessern und die Demokratie retten, alles auf einmal. Mit der Realität hat das nichts zu tun.“

In Zierers SZ-Artikel stehen Meinungssätze wie folgende:

„Derweil liegt der Rückgang der Leistungen an Deutschlands Schulen nicht nur am Unterricht selbst, sondern auch an einem pädagogisch kaum bewältigbaren Zuwachs von Schülern mit mangelnden Deutschkenntnissen. Wenn ein Drittel der Kinder, wie in Berlin, des Deutschen nicht mächtig sind, kommt jedes Bemühen eines Lehrers an seine Grenzen.“

Indem Zierer behauptet, dass jedes Bemühen einer Lehrkraft an seine Grenzen käme, ist die Ursache scheinbar klar.

Schuldumkehr: Migration.

Weiter heißt es:

„Denn wovon sonst, wenn nicht vom Elternhaus, soll Bildung abhängen?“

Die Schule scheint laut Zierer geringe Bedeutung für die Bildung zu haben. Also liegt die Schuld bei migrantischen Eltern, die „bildungsfern“ seien. Fragt Zierer danach, wie dem in der SZ am 30. 11./01.12.2024 veröffentlichten durchaus ernst zu nehmenden Ohnmachtsgefühl eines Kollegiums (Friedrich-Bergius-Schule in Berlin) Rechnung getragen werden könnte? Oder reiht er sich nur ein ins allgemeine Wehklagen über zu viele Menschen, die z. B. kein Deutsch sprechen?

Schuldumkehr: „Bildungsferne“ Elternhäuser

Klaus Zierer geht noch weiter:

„So hart es klingt, wissenschaftlich lässt sich nicht daran rütteln, dass jedem Menschen unterschiedliche Stärken und Schwächen in die Wiege gelegt werden.“
Schuldumkehr: IQ und Vererbung

Klaus Zierer stellt Adornos „Erziehung zur Mündigkeit“ als Aufgabe der Schule nicht infrage.
Er kommt allerdings zu fatalen Schlussfolgerungen:

„Was also Schule leisten soll, ist immer wieder zu prüfen an dem, was Schule leistet und leisten kann. Nur so lässt sich eine Überforderung des Schulsystems vermeiden.“
Schuldumkehr: Verhältnisse und Rahmenbedingungen

Welche Aufgabe hat Schule, wenn sie das Recht auf Bildung aller, ohne Ausnahme, (laut Bundesverfassungsgericht vom November 2021) in der schulischen Gemeinschaft verwirklichen soll? Kann Zierer mit seiner Expertise dazu beitragen, dass das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Recht auf diskriminierungsfreien Zugang aller auf Bildung in der Gemeinschaft verwirklicht wird? Oder läuft seine Argumentation darauf hinaus, einen Teil der Kinder aus der wohnortnahen Klassengemeinschaft auszusondern? Jedes Kind hat einen subjektiven Rechtsanspruch, auf eine passende schulische Bildung in der Gemeinschaft. Nach rechtswissenschaftlicher Einschätzung könnten damit z. B. Vorbereitungsklassen gegen das Recht auf diskriminierungsfreie Bildung verstoßen, wenn sie „aufgrund angeblich vorhandener Sprachschwierigkeiten nur von Kindern aus einzelnen Bevölkerungsgruppen besucht werden“ (Hanschmann, 2024. S. 43–44). Die hier anklingende pädagogische Dimension des Verfassungsgerichtsentscheids von 2021 wird dazu beitragen, schulinterne Strukturen umzubauen. Dabei ist viel zu tun und die konkrete Unterstützung von Forschern wäre vielleicht notwendig, um den einzelnen Schulen bei ihrer Aufgabe zu helfen.
Statt mit dafür Sorge zu tragen, dass sich konkret in den einzelnen Schulen an den schwachen Schulleistungen und nicht erreichten Schulabschlüssen bei einer erschreckend hohen Zahl an Schulabbrecher:innen etwas ändert, fordert Klaus Zierer, dass man das System nicht überfordern dürfe.
Dies ist umso erstaunlicher, als Klaus Zierer selbst wissen muss, wie effektiver Unterricht gelingt. Er konfrontiert jedoch offenbar mit einer vermeintlichen Realität: Sorry, schaut her, es funktioniert eben nicht.
Eigentlich ist Klaus Zierer zusammen mit Wolfgang Beywl groß geworden mit der verdienstvollen Übersetzung von John Hatties Meta-Studie (Hattie, 2013). Gerade in dieser bedeutsamen Studie wurde gezeigt, welche pädagogischen Fähigkeiten nötig sind für erfolgreiches Lernen und welche Beiträge Schüler:innen, Elternhaus, Schule, Lehrkräfte, Curricula und Unterricht zum Lernerfolg leisten. Zierer weiß selber, wie guter Unterricht geht, aber im Zeitgeist der Migrationshasserei hat er offenbar ganz vergessen, was er selbst übersetzt hat:

„Schulleitende und Lehrpersonen müssen Schulen, Lehrerzimmer und Klassenzimmer schaffen, in denen Fehler als Lerngelegenheiten willkommen sind, in denen das Verwerfen von fehlerhaftem Wissen und Erkenntnissen begrüßt wird und in denen sich die Teilnehmenden sicher fühlen können, um zu lernen, neu zu lernen und Wissen und Erkenntnisse zu erkunden.“ (Hattie, 2013, S. 281)

Zierer verschiebt die Schuld der Bildungsmisere im aussondernden Schulsystem auf Migration, bildungsferne Elternhäuser, IQ und Vererbung und malt die Gefahr der Überforderung des Systems an die Wand. Um offenbar nicht in die Nähe von menschenrechtswidrigen Positionen gerückt zu werden, argumentiert er mit dem Artikel 131 aus der Bayerischen Verfassung, in dem es um Werte, Würde des Menschen, Völkerverständigung und Demokratie geht. Seine Schlussfolgerungen sind dennoch brandgefährlich. Er ist der Meinung, dass die Umsetzung all dieser Dinge eben nicht gelingt, weil sie nicht gelingen könne; die Realität in der Schule so sei, wie sie sei. Trägt er als Wissenschaftler für Pädagogik keine Verantwortung für den Verlust des Vertrauens in die Demokratie?
Zierer kennt Entlastungsstrukturen in Schulen, die Lehrerinnen und Lehrern ihre Freude an der pädagogischen Arbeit zurückbringen. Auch weiß er, wie es Lehrkräften in stark heterogenen Klassen gelingt, allen Kindern und Jugendlichen effektive Lernzeiten zu organisieren, wie beispielsweise seine aktuellste Veröffentlichung (Lesch & Zierer, 2024) zeigt. Er selbst bildet Lehrkräfte in solchen Methoden aus.
Zierer als Übersetzer der Hattie-Studie weiß, wie erfreulich es sein kann, mit den unterschiedlichsten Kindern und Jugendlichen zusammen zu lernen und sie zu unerwarteten Schulerfolgen zu führen, die für sie passen und natürlich niemals gleich sein müssen. Dennoch nutzt er sein Wissen offenbar nicht.
Im Folgenden wird Zierers trügerische These, dass Bildungserfolg kaum vom Unterricht abhänge, durch unsere eigenen Unterrichtserfahrungen, sowie wissenschaftlich u. a. mit der Hattie-Studie widerlegt. Wir möchten damit unserer Verantwortung als Lehrkräfte gerecht werden, der Öffentlichkeit in verständlicher Weise den Stand der Forschung zu erläutern. Wir möchten der Täuschung entgegenwirken, die wissenschaftlichen Erkenntnisse würden vermeintliche Vorteile des bestehenden Schul- und Unterrichtssystems belegen können. Die einzelne Schule hat jedoch Spielräume, die sie kämpferisch nutzen muss – „ungehorsam“ gegen den Zeitgeist und deren administrative Adjutanten (Stähling & Wenders, 2013).

1. Eigene Erfahrungen: Bildung im sozialen Brennpunkt hängt vom Unterricht ab

Wir haben in der PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist (Gesamtschule der Jahrgänge 1 bis 10) die Erfahrung gemacht, dass es keine Patentrezepte gibt. Welche Methoden sind tauglich, um mit „herausfordernden“ Schüler:innen in der Klasse zu arbeiten? Die Pädagog:innen werden probieren müssen, was gut funktioniert. Man wird evaluieren, ob Teilziele erreicht worden sind und – falls nicht – sich fragen, welchen anderen Weg man nun versuchen sollte. In unserer Schule ist dies so geregelt: Die Erwachsenen arbeiten in einem klasseneigenen multiprofessionellen Team zusammen. Dort müssen sie ihre Arbeit eigenständig absprechen. Wir versuchen, uns in die Lernenden einzufühlen, um aus ihrer Perspektive herauszufinden, was hilft. Dies hat die höchsten Effekte auf die Lernleistungen. Auf das Feedback jeder Schülerin und jedes Schülers ist man dabei angewiesen. Hattie (2013) betont, dass eine solche innovative – und wir können hier sagen „inklusive“ – Unterrichtsarbeit die „gesteigerte Aufmerksamkeit bezüglich der Effekte“ (S. 296) zur Folge hat. Dies führt zu höherer Schülerleistung.
John Hattie (2013) fordert: „Seien Sie bereit, sich überraschen zu lassen“ (S. 148) von den unerwarteten Lernleistungen der eigenen Schüler! Wenn ein Team sich diese Erkenntnisse erarbeitet, begibt es sich auf den Weg zur Inklusion und baut Ausgrenzung ab. Wie müssen die Bedingungen auf die Schüler abgestimmt sein, dass alle Erfolge haben?
In unserer Schule im als „Sozialer Brennpunkt“ bezeichneten Stadtteil Berg Fidel gehen wir folgende Wege und koordinieren sie in klasseneigenen Teams (Stähling & Wenders, 2015; 2021):

  1. Jeder Tag beginnt in allen Klassen von Jg. 1 bis 10 mit freien Arbeitsphasen (2 Stunden), in denen sich Schüler:innen zur gleichen Zeit mit ähnlichen Aufgabengebieten in Mathematik, Deutsch und Englisch auseinandersetzen. Dabei arbeiten alle genau an der Stelle weiter, wo sie gestern aufgehört haben. Die Lehrkraft gewinnt dabei Zeit, sich um Einzelne zu kümmern oder um eine Kleingruppe. Auf äußere Differenzierung verzichten wir. Wir unterstützen die Schüler:innen und arbeiten mit ihnen zusammen an den „stofflichen Hürden“. Alle haben Anspruch auf eine steile Lernkurve. Wir sorgen dafür, dass sich Kinder und Jugendliche entwicklungslogisch die Lerngegenstände aneignen und dabei weder über- noch unterfordert werden. Kinder und Jugendliche lernen dabei auch, indem sie anderen z. B. in der Freien Arbeit etwas erklären. In altersgemischten Klassen gelingt dies besonders gut. Wir nutzen dabei die vielfältigen Perspektiven aller auf den Lerngegenstand, um ihn tiefer zu durchdringen und besser zu verstehen.
    Kinder und Jugendliche erleben, dass sie durch Handlungen Lerngegenstände aktiv be-greifen können. Wir führen auch Projekte durch, bei denen Kinder und Jugendliche die „nützliche Erfahrung machen, nützlich zu sein“ und Verantwortung für sich und andere übernehmen.
  2. Lernstandserhebungen dienen den Kindern und Jugendlichen. Wir verschaffen ihnen dabei Erfolgserlebnisse. Irrtümer, Fehler, aber auch Misserfolge und „Rückfälle“ sind normal und werden gemeinsam mit den Einzelnen oder in der Lerngruppe konstruktiv bearbeitet. Bereits seit 10 Jahren arbeiten wir erfolgreich in allen Klasse bis einschließlich dem 8. Jahrgang ohne Noten. Das entwürdigende und ineffektive Sitzenbleiben ist abgeschafft: Wer langsamer lernt, bekommt die nötige Zeit dazu in seiner Klasse.
  3. Wir geben den Kindern und Jugendlichen Halt in ihrer altersgemischten Klassengemeinschaft und vereinbaren mit ihnen transparente Strukturen, Zeitpläne und Regeln. Schüler:innen lösen ihre Probleme im Klassenrat mit unserer Hilfe selbst. Dort lernen sie, Konflikte friedlich und im Gespräch zu lösen. Die Klassengemeinschaft ist entscheidend, auch für den Lernerfolg. Die solidarische Gemeinschaft ist die Stärke gerade der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien, die in Not und Armut leben (Stähling & Wenders, 2021). Sie müssen täglich das Wenige teilen.
  4. Wir solidarisieren uns mit Kindern und Jugendlichen und deren Familien. Wir setzen uns konkret für deren Belange ein (z. B. Gesundheit, Pünktlichkeit, häusliche Unterstützung). Kinder sind uns anvertraut und wir haben Verantwortung für ihr Wohlergehen. Das gebietet uns die „Pädagogikethik“, wie es die Inklusionsforscherin Annedore Prengel (2022, S. 59–75) nennt. Dies ist ähnlich, wie es in der Medizinethik, wo es das oberste Anliegen der Ärzt:innen sein soll, sich für das Wohlergehen aller Patient:innen einzusetzen. Für die uns Lehrkräften anvertrauten Kinder haben wir stellvertretend eine „advokatorische Verantwortung“ (Prengel, 2020, S. 53–55; Prengel, 2013).

Mit diesem pädagogischen Handwerkszeug, der Ethik und einem entsprechenden Durchsetzungswillen ist es möglich, die im Schulsystem wirkenden aussondernden Strukturen Zug um Zug über Jahrzehnte außer Kraft zu setzen (Stähling & Wenders, 2023; Stähling, 2025).

2. Hattie: Bildung hängt von Unterricht ab

Einige Verfechter des herkömmlichen Schulwesens haben Hattie missbräuchlich genutzt und behauptet, seine Analysen würden zeigen, dass es für den Lernerfolg auf die schulischen Strukturen und Rahmenbedingungen nicht ankomme. Wie sich jedoch im Folgenden zeigen wird, verschaffen gerade diese Metaanalysen dem inklusiven Unterricht Rückenwind und ermutigen zu weiteren Schritten.
Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie hat mit seiner Metaanalyse von etwa 800 Metaanalysen über Einflussfaktoren und Effektstärken beim Lernen den Stand der Forschung zusammengefasst. Er greift damit auf 50000 Studien mit ca. 250 Millionen Schüler:innen zurück – zum Vergleich: PISA untersucht weniger als 1 Million Schüler:innen. Wegen seiner bedeutenden Metaanalysen kann Hattie im Schulalltag ein empirischer Filter sein, der unsere Arbeit in den Schulklassen kritisch beleuchtet.
Aktiver, geführter Unterricht ist effektiver als ungeführter, moderierender Unterricht. Methoden wie unstrukturiertes, entdeckendes Lernen gelten hier als weniger effektiv. Lehrerzentrierter Unterricht dagegen bewirke ein hohes Maß an Lernen und Selbstregulierung aufseiten der Schülerinnen und Schüler (Hattie, 2013, S. 286-287).
Wendet man diese Ergebnisse an auf unterrichtsmethodische Grundtypen in inklusiven Klassen, so sind Formen mit hoher Lehrersteuerung wie Lehrervortrag, Stillarbeit und Sitzkreis sowie Förderunterricht in Kleingruppen wirksam und bereiten gut auf Unterrichtsorganisationen vor, die eher von den Schülern selbst gesteuert sind wie Gruppenarbeit, Projektunterricht und freie Arbeitsformen.

Unsere Praxiserfahrungen zeigen, dass Lehrkräfte, die gut „lehrergesteuert“ unterrichten können, meist auch erfolgreich die tägliche Freie Arbeit organisieren können. Sie sind zielorientiert und ihr Interesse gilt dem Fortkommen aller Schüler:innen. Zu diesem Zweck arbeiten sie aktiv daran, dass Schüler:innen sich zunehmend selbst zu steuern lernen. Diese werden ihre eigenen Lernchefs, oft auch gemeinsam mit solidarischen Freundinnen und Freunden.
Der Vorteil für die Unterrichtsorganisation liegt auf der Hand: Aktiv selbst lernende Schüler:innen ermöglichen der Lehrkraft, mehr Zeit für besonders interessierte oder für Schüler:innen zu haben, die mehr Unterstützung brauchen. Schüler:innen wollen diese klare Strukturierung, um in Ruhe konzentriert und effektiv lernen zu können.
Dabei spielt die pädagogische Beziehung eine zentrale Rolle. Annedore Prengels Studien (2013) machen deutlich, dass wir das Lernen der Schüler:innen immer nur im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen verstehen können. Sie muss genügend gut sein, wobei „anerkannt wird, dass niemand es leisten könne, Kinder vollkommen ‚richtig‘ anzuerkennen“ (Prengel, 2013, S. 11).
Wenn Schüler:innen den Lehrpersonen – auf der Basis einer vertrauensvollen pädagogischen Beziehung – zeigen können, wie sie vorankommen auf dem Weg zu ihrem Lernziel, dann haben wir ein wichtiges Ziel erreicht; denn solches „Feedback“ über die eigenen Lernlücken gibt den Lehrkräften die Möglichkeit, daran anzusetzen und mit geeigneten Maßnahmen darauf zu reagieren (Hattie, 2013, S. 280).
Kurz: Die Lehrkraft kann durch aufschließende Gespräche mit dem Kind erfahren, wo das Lernproblem bei ihm liegt und welche Hürde zu bewältigen ist.

Dagegen scheinen „unstrukturierte Formen des offenen Unterrichts“ weniger effektiv zu sein, besonders für lernschwache Schüler:innen. Heißt das etwa, dass sich reformpädagogische Schulen geirrt hätten? Nein, aber wenn ein offener Unterricht den Schüler:innen keine Struktur bietet und sie nicht da abholt, wo sie stehen, kann er wenig Lernzuwachs erbringen.
Ein Feedback an Lehrkräfte und eine ehrliche Evaluation sind hierbei bedeutsam. Die „providing formative evaluation by teachers“ (Hattie, 2013, S. 433), die „formative Evaluation des Unterrichts“ (S. 215) hat einen sehr hohen Effekt auf das Lernen (d=0.90).

Hattie fordert Lehrer:innen auf,

  1. das Lernen aus Sicht der Lernenden zu betrachten und
  2. „…, dass man seine Vorstellung darüber, was es heißt, eine Lehrperson zu sein, ändert. Das an die Lehrperson gerichtete Feedback darüber, was Lernende leisten und was nicht, ist wirksamer als das Feedback, das sich an die Lernenden richtet. … Denn es ist von entscheidender Bedeutung sicherzustellen, dass ‚Fehler‘ nichts Schlimmes sind. Sie dienen als Ansatzpunkte für Verbesserungen des Lernverhaltens“ (S. 4–5).

Hier wird ein wichtiges Merkmal von inklusivem Unterricht beschrieben: „Lehrpersonen gehören zu den wirkungsvollsten Einflüssen beim Lernen“ (Hattie, 2013, S. 280).
Die von Hattie aufgezeigten starken Effekte auf das Lernen (wie z. B. „Feedback“ mit d= 0.73 oder „direkte Instruktion“ mit d=0.59) werden zuweilen missverstanden als Belege gegen offene Unterrichtsmethoden. So erbringt z. B. „Individualisierung“ im Durchschnitt nicht deutlich mehr Lernleistung als „normaler Klassenunterricht“ (Hattie, 2013, S. 234–236; S. 31–32). Lehrer:innen könnten meinen: „Wenn Individualisierung keine starken Effekte aufweist, dann brauche ich sie nicht zu praktizieren.“ Dies ist jedoch ein Fehlschluss.
In den Studien werden Klassen mit bzw. ohne Individualisierung verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass der hier „nur isoliert“ betrachtete Faktor „Individualisierung“ wenig erbringt.
Hattie-Analysen über bestimmte Einflussfaktoren auf die Schülerleistung basieren auf Mittelwertberechnungen. Vereinfacht lässt sich dieses wissenschaftsmethodische Vorgehen so darstellen: Zunächst mussten Klassen gefunden werden, in denen ein bestimmter Faktor zu beobachten ist. Wenn man Klassen mit und Klassen ohne diesen Faktor miteinander vergleicht, erkennt man in den empirischen Daten die Unterschiede.
Hier wird jedoch noch nicht die für die Schulpraxis wichtige Frage aufgeworfen, unter welchen Unterrichtsbedingungen dieser Faktor auftritt oder wahrscheinlich auftreten wird. Das Erfahrungswissen professionell handelnder Lehrerinnen und Lehrer bestätigt, dass z. B. der wichtige Lernfaktor „Feedback“ überwiegend nur in solchen Klassen auftreten kann, wo gut kooperierende Teams arbeiten und Zeit für Einzelunterricht und starke Zuwendung (Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehungen mit dem starken Effekt von d=0.72) im Rahmen z. B. freier Arbeitsphasen „ermogelt“ werden kann. Hier spielen auch die Führung der Klasse (d=0.52), die Beeinflussung des Verhaltes in der Klasse (d=0.80) und die Reduzierung von Unterrichtsstörungen (d=0.34) eine große Rolle (Hattie 2013; Stähling & Wenders 2012, S. 46–49; Stähling 2011, S. 52–58).
Nur ein Bündel an Faktoren macht es möglich, im Unterricht starke Lerneffekte zu erzielen. Verständlich in diesem Zusammenhang ist dann auch, dass „Self-report grades“ (S. 433), die „Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus“ bei Schüler:innen (S. 52-53), den höchsten Einflussfaktor darstellt (d= 1.44), vielleicht, weil diese Kompetenz allen am Lernprozess beteiligten Menschen hilft, die für die Schüler jeweils passenden Lernwege zu finden. Dass diese Selbsteinschätzung möglich ist, setzt aber eine Halt gebende pädagogische Beziehung (Prengel, 2013; 2022) voraus.
Wolfgang Beywl und Klaus Zierer als Herausgeber der deutschen Ausgabe von Hattie (2013) betonen, dass es nicht auf die Einzelfaktoren (wie Individualisierung mit d=0.23, Teamteaching mit d=0.19, jahrgangsübergreifende Klassen mit d=0.04) ankommt, sondern dass solche Faktoren es erst möglich machen können, dass die für das Lernen entscheidenden Wirkfaktoren (mit hohen Effektstärken auf die Lernleistung) zur Geltung kommen.
Die Gefahr einer oberflächlichen Interpretation der Hattie-Studie wird hier deutlich.
Für uns ist interessant, dass wir die von Hattie (2013) dargestellten empirisch gestützten Lern-Faktoren, die große Effekte zeigen, in der Praxis des inklusiven Unterrichtens ausfindig machen können (Stähling & Wenders, 2012).
Plausibel begründet kann gelten, dass heterogene Klassen ein großes Lernpotential bieten. Dagegen erlauben homogene Klassen mit einer monokulturellen Zusammensetzung zu wenig Perspektiven auf gemeinsame Lerngegenstände-

3. Bildung hängt von Klassengemeinschaft und schulinterner Struktur ab

Welche Strukturen sollte eine Schule aufbauen, damit alle Schüler:innen eine effektive Lernzeit finden?
Zentral ist, dass Brüche in der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen grundsätzlich vermieden werden. Schulen in Langform von Jahrgang 1 bis 10 sind nicht neu und in der Praxis international erprobt. Die überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit ist belegt (Vieluf, 2021). Jugendliche in Langformschulen zeigen in jedem Abschlussjahrgang 10 bessere Schulleistungen, als Grundschulempfehlungen prognostiziert hatten. Beachtlich ist, dass in der Schule Berg Fidel – Geist auch Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf öfter, als zu erwarten war, einen Schulabschluss erreichten und in eine Ausbildung wechseln konnten (Stähling & Wenders, 2021, S. 30–36.). Die Forschungslage bestätigt, dass die »Schulleistungen der inklusiv beschulten Schüler*innen, die der exklusiv beschulten« vielfach übertreffen, sie »öfter einen regulären Schulabschluss« erreichen und »öfter in eine reguläre Ausbildung« wechseln (Jürgens, 2020, S. 67). An unserer Schule wechseln alle Schüler:innen nach Jahrgang 10 in eine Ausbildung oder weitere Schullaufbahn. Niemand verlässt die Schule ohne die Sicherheit eines Anschlusses zu haben.
Kernelement der pädagogischen Arbeit in einer Schulklasse muss nach unserer Erfahrung sein, dass die Grundbedürfnisse der Schüler:innen im Zentrum der Mühen stehen: Achtung, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit und Begleitung (Stähling, 2011 [2006]. Auch in aktuellen Fallstudien an der Laborschule Bielefeld konnten ähnliche Kernelemente einer gelingenden Inklusion von Jugendlichen „mit Beeinträchtigungen oder in erschwerten Lebenssituationen“ gefunden werden (Külker et al., 2024, S. 157). Aus diesen Fallanalysen leitet sich ab, dass gerade die benachteiligten Schüler:innen die durchgehende Langformschule von Jahrgang 1 bis 10 brauchen. Sie gewinnen Sicherheit, wenn sie bis Jahrgang 10 nahezu keine Selektion (auch nicht durch Ziffernnoten bis Jahrgang 9) erleben (Külker et al., 2024, S. 162-164). Für die Begleitung ist bedeutsam, dass multiprofessionelle Pädagog:innen-Teams sich verlässlich verantwortlich fühlen und als „Anwälte der Kinder und Jugendlichen arbeiten“ (Külker et al., 2024, S. 160; S. 165–166).
Stähling & Wenders: „Denn wovon sonst, wenn nicht vom Elternhaus, soll Bildung …
Unsere Erfahrungen aus 50 Jahren Schulentwicklung (Stähling, 2024) decken sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den Merkmalen erfolgreicher Schulen in herausfordernden Lagen (Marx & Maaz, 2023, S. 192–195.): Problembeladene Schüler:innen brauchen für ihr Fortschreiten – anstelle von Aussonderung aus den Regelschulen – kompensierende Lernsituationen und förderliche Lernbedingungen in der Klassengemeinschaft:

  1. Eine hohe Qualität des pädagogischen Handelns: Adaptive Lernangebote und Lehrkräfte, die den Lernfortschritt von allen Schüler:innen im Auge haben. Dialoge mit Schüler:innen und unter Lehrkräften (Klassenteams) über die passenden Lernangebote und Hürden in den Lernprozessen sind Bestandteil des Erfolges (Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 238–241).
  2. Pädagog:innen, die fest überzeugt sind von der grundsätzlichen Lern- und Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Kindes. Sie legen den Fokus auf das Lernen und die Lösung von Problemen (Focus on Learning, Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 237–239.). Die Lehrer:innen schaffen ein ermutigendes Lernklima. Sie ermöglichen die »Kooperation am Gemeinsamen Gegenstand« in der Klassengemeinschaft. Entsprechend sind die Lernbedingungen an der Schule so gestaltet, dass eine sichere, angstfreie und fehlerfreundliche Lernkultur entsteht, die für Problemlösungen, Innovationen und Veränderungen offen ist (Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 237–242).

Eine Schule als sorgende Einrichtung (auch im Hinblick auf die Erfüllung von Primärbedürfnissen, wie Hunger usw.) mit entsprechenden Ressourcen (caring, Prengel, 2020, S. 32–35.) führt zu Erfolgen. Es ist nötig, die Betroffenen einzubeziehen und mit ihnen konkret an der Lösung von Problemen zu arbeiten (Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 239–241.). Dazu sind klare, abgesprochene Regeln in jeder Klassengemeinschaft nötig. Zügige und konsequente Reaktionen auf Regelübertritte. Abklärung der Probleme im Klassenrat stabilisieren die Gemeinschaft.

4. Bildung hängt von Wertschätzung ab

In erfolgreichen Schulen in benachteiligten Lagen stellt die Forschung fest, dass die Lehrkräfte »Verantwortung für das schulische Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler« (Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 234) übernehmen. Sie setzen passende Anforderungen. Sie delegieren nicht die Aufgabe an die Herkunftsfamilien, die diesen Ansprüchen nicht genügen können. Ebenso wird nicht der Sozialraum für schulische Leistungen verantwortlich gemacht (Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 240). Bei diesen Lehrkräften findet man keine defizitorientierte Haltung.
Die »Entwicklung einer ressourcenorientierten Schulkultur, die herkunftsbedingt heterogenen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler Wertschätzung entgegenbringt und diese bspw. in mehrsprachigen Unterrichtssettings auch einbezieht« und eine »Kultur der Anerkennung« (Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 234) aufbaut, gelten als Gelingensbedingungen von Schulen in benachteiligten Lagen.
Schulleistungen in Brennpunkt-Schulen sind mit dem üblichen Paradigma (anregungsarm) nicht erklärbar (Feuser & Stähling 2024). „Erwartungswidrig“ gut sind solche Brennpunkt-Schulen, die trotz einer Schüler:innenschaft aus Armut große Lernzuwächse vorweisen können.
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass diese Schulen gekennzeichnet sind durch besondere pädagogische Elemente wie »gemeinsame Orientierungen, Ziele, Werte und Normen« (Bühlmann, 2020, S. 58). Auch eine partizipative Schulleitung und hohe Leistungserwartungen sowohl bei Mitarbeitenden und Schüler:innen ist entscheidend. Dazu ist ebenfalls der Einbezug der Eltern bedeutsam (Bühlmann, 2020).

5. Bildung hängt von der Schulleitung ab

»Eine zentrale Rolle kommt mit Blick auf das Schulklima und der Schulkultur dem Schulleitungshandeln und der Führung von Schulen zu« (Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 236-242).
Aktuelle Metaanalysen empirischer Studien aus dem internationalen Kontext zeigen, dass die Lernergebnisse der Schüler:innen mit der Führung der Schule und dem Austausch der Lehrkräfte untereinander zusammenhängen. Dies gilt besonders, wenn die Schulleitung sich gemeinsam mit der Schulgemeinschaft auf das Lernen fokussiert (Tulowitzki et al., 2023, S. 122–127).
Es liegt somit nahe, dass die in der PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist etablierten Pädagog:innen-Teams, die als Verantwortungsgemeinschaft für eine Klasse zuständig und für die Arbeit verantwortlich sind, gute Leistungen zur Folge haben.
Es ist davon auszugehen, dass Schulleitung durch die Schaffung von lernförderlichen Bedingungen und Strukturen starken Einfluss auf die Schüler:innen-Leistungen haben (Tulowitzki et al., 2023, S. 124–127). Zu den leistungsförderlichen Strukturen lassen sich Teamarbeit, gebundener Ganztag, Notenfreiheit sowie die Langformschule von Jahrgang 1 bis 10 zählen.
Die von Stähling (2025) vorgelegten Schulleiter-Aufzeichnungen aus 50 Jahren Schulentwicklung im Brennpunkt können z. B. eine Fundgrube bieten, um (rekonstruktiv) zu erforschen, wie es der Schulleitung gelingen kann, dass sich alle schulischen Akteur:innen, einschließlich der gesamten Organisation, auf das Lösen von Problemen, das effektive Lernen der Schüler:innen fokussieren und dafür Verantwortung übernehmen.
Dieses als »Leadership for Learning« (Bremm & Racherbäumer, 2023, S. 237-242) oder »pädagogische Schulführung« bezeichnete Vorgehen von Schulleitung wird für sozialräumlich benachteiligte Schulen als höchst bedeutsam erachtet. Es ist mit einer Suche nach Lösungsstrategien zu vergleichen, bei dem alle Beteiligten, also die Mitglieder der Schulgemeinschaft, verantwortlich mitwirken und ihre Perspektiven auf Problemlösungen ernst genommen und unterstützt werden. Solches Leitungshandeln beruht auf Empathie für die Schüler:innen und versteht die ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen sie aufwachsen (Tulowitzki et al., 2023, S. 122).

6. Bildung hängt von der einzelnen Schule ab

Seit den PISA-Ergebnissen von 2000 tritt ausgeprägt zutage, dass der Schulerfolg in Deutschland stärker als in den meisten OECD-Ländern ungleich verteilt ist. Kinder der unteren sozialen Schichten erreichen weniger höhere Bildungsabschlüsse als es ihrem gemessenen Leistungspotential entspricht. Zwei Ursachen wurden ermittelt: Familiäre und schulstrukturelle Einflüsse. Welche hat den größten Effekt? In einer Simulationsstudie konnte Müller-Benedict (2008) aufzeigen, dass die Ungleichheit stärker durch Strukturen des deutschen Schulsystems (frühe Aufteilung nach der 4. Klasse und Vormittagsschulen) als durch die familiäre Sozialisation hervorgerufen wird. Schichtspezifische »Bildungsaspirationen« kommen erst dann stärker zum Tragen, wenn die Kinder nur halbtags zur Schule gehen und frühe Schulform-Entscheidungen getroffen werden müssen. Daraus folgt, dass Fördermaßnahmen (wie frühe Deutschförderung) zwar zweckmäßig sein können, jedoch in ihrer Wirkung übertroffen werden durch die Einrichtung von Ganztagsschulen und die Abkehr von der frühen Aufteilung der Schüler:innen (Müller-Benedict, 2008). Dies wird durch einen Ländervergleich bestätigt: Europäische Länder mit eingliedrigen Gesamtschulen bis zum 16. Lebensjahr sind nach Analyse der PISA-Daten 2003 besser in der Lage, die soziale Selektivität zu reduzieren als Länder mit früher differenzierenden Systemen (Bacher, 2007).
Schon in den 1970er-Jahren entdeckte die Schuleffektivitätsforschung, dass einzelne Schulen in herausfordernden Lagen gute Leistungsergebnisse vorweisen konnten. In den 1980er-Jahren zeigte sich in der Londoner Rutter-Studie, ebenso wie aus den Studien von Helmut Fend, dass sich gute von schlechten Schulen nicht aufgrund ihrer Komposition der Schülerschaft unterscheiden lassen, sondern durch ihre pädagogische Handlungsfähigkeit (Emmerich, 2023, S. 210). Diese Forschungsansätze zeigen pragmatische Lösungen auf. Das bedeutet, dass Lernerfolge in Schule eine Frage der Didaktik sind (Feuser & Stähling, 2024). Sie lassen sich steigern, wenn Strukturen in der einzelnen Schule »segregationssensibel« umgebaut werden (Emmerich, 2023, S. 210–213).
Schulen mit einer Häufung an Problemlagen werden oft als failing schools dargestellt. Scheitern wird vorausgesetzt, weil das Milieu »anregungsarm« sei. Bildungssoziologisch werden schwache Leistungen überwiegend mit Ursachen erklärt, die außerhalb von Schule liegen, also Familie, Sozialraum und Mischung. Die soziale Zusammensetzung der Schüler:innenschaft (Komposition) soll starke Auswirkungen auf Kompetenzerwerb und -entwicklung haben. Kinder aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischem Status sowie mit Migrationsvorgeschichte werden als Risikogruppe bezeichnet und haben einen deutlichen Leistungsrückstand gegenüber Kindern von leitenden Angestellten. In Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen sind die benachteiligten Schüler:innen überrepräsentiert. Eine Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist in Deutschland nicht gelungen (Förster & Benkmann, 2023, S. 38-46). Für Benachteiligte ist die durchschnittliche Schule in Deutschland als »selektive Mittelschichtinstitution« (Förster & Benkmann, 2023, S. 45) nicht genügend lernwirksam.
Die außerhalb von Schule liegenden Erklärungen für schulisches Scheitern greifen zu kurz und führen zu ineffizienten Maßnahmen: »Die bildungspolitischen Maßnahmen, die aus dieser Kausalität abgeleitet wurden, konzentrierten sich entsprechend darauf, für soziale Durchmischung sowie zielgruppenspezifische Kompensationsprogramme zu sorgen« (Emmerich, 2023, S. 204). In der Schule in Berg Fidel werden z. B. alle Kinder des Stadtteils aufgenommen, so dass hier wohnortnahe Integration praktiziert wird. Dabei wird keine „soziale Durchmischung“ bei der Aufnahme der Schüler:innen hergestellt. Würde dies geschehen, indem man z. B. bei der Aufnahme den in Tests leistungsschwach markierten Kindern den Zugang der wohnortnahen Schule verwehrte, so träfe dies besonders die von Armut und Diskriminierung getroffenen Familien wie Rom:nja. Daran wird sichtbar, dass »gute Mischung« zur Vermeidung von „ungünstiger Komposition der Schüler:innenschaft“, in diesem und anderen Fällen Aussonderung zur Folge hätte. So praktizierte Steuerung des Zugangs zu Schulen wirkt damit wie eine »kulturelle Invasion« und kann eher Lernerfolge der betroffenen Kinder gefährden. Denn sie verließen dann ihr vertrautes Umfeld und würden wohnortfern in eine für sie fremde Schule eingeschult. Ihnen fehlten dann die Freunde aus Nachbarschaft und Kindergarten. Diese getarnte Aussonderung wird häufig, besonders auch in Gesamtschulen verwendet, um eine vermeintlich „anregungsarme“ Komposition der Schüler:innenschaft zu vermeiden (Stähling & Wenders, 2021, S. 311-364).
Das Paradigma des „Kompositionseffekts“ macht Schulentwicklungsforschung blind, denn sie nimmt zu wenig das systemimmanente operative Differenzierungs- und Organisationshandeln der einzelnen Schule selbst in den Fokus (Emmerich 2023, S. 201–213). In der Forschung über Schule fehlt nach Emmerich (2023) derzeit ein »valides Beobachtungskriterium«, das systemextern erzeugte Ungleichheit von systeminterner unterscheiden hilft (S. 211). Forschung müsste sich mehr mit der Frage befassen, „welche Ungleichheit das Schulsystem eigenlogisch erzeugt – und ob diese ›Systemleistung‹ durch Schulentwicklungsprogramme ›korrigiert‹ werden kann” (Emmerich, 2023, S. 213).
Die PISA-Forschung belegt, dass schulstrukturelle Veränderungen die Leistungen Benachteiligter verbessern: »Von bestimmten Bildungssystemen, die solide Ergebnisse erzielen und sich gleichzeitig durch einen hohen Grad an Teilhabe und Fairness auszeichnen, können andere Länder und Volkswirtschaften lernen« (OECD, 2023, S. 55). Auch einzelne Schulen, wie das Beispiel Berg Fidel zeigt, können auf der Basis dieser Erkenntnisse und der wertvollen Erfahrungen anderer Schulen aussondernde Strukturen Zug um Zug außer Kraft setzen.

Fazit:
Aktuelle Forschungen bestätigen den Weg einer Schule im sozialen Brennpunkt, wie die PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist, die innerhalb des Schulsystems die aussondernden Strukturen außer Kraft gesetzt hat. Auch jahrzehntelange Erfahrungen mit der schulischen Arbeit in dieser und anderen Schulen widerlegen Thesen, die behaupten, in einem vermeintlich „anregungsarmen“ Umfeld könnten die Schüler:innen nicht durch Unterricht und Umbau von schulinternen Strukturen zu Lernerfolgen kommen. Auch die durch Medien angefeuerte Vermutung, Lehrer:innen kämen hier an ihre Grenzen, kann nicht bestätigt werden. Die Abhängigkeit der Schulleistung von der Herkunft lässt sich vielmehr durch die pädagogische Arbeit in einer solidarischen, nicht-aussondernden einzelnen Schule reduzieren.

Literatur
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Kontakt
Dr. Reinhard Stähling, Drechslerweg 26 48161 Münster E-Mail: ggs-bergfidel@gmx.de, Tel.: +49 1752 943162, Website: www.reinhard-staehling.de
Barbara Wenders, Drechslerweg 26, 48161 Münster E-Mail: wenders@muenster.de

Weitere Angaben zu den Autoren*innen:
Dr. Reinhard Stähling arbeitete seit 1992 in der Grundschule Berg Fidel in Münster als Klassenlehrer und in der Schulleitung. Diese Schule wurde 2014 umgebaut zur PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist, deren Schulleiter er bis zur Pensionierung 2022 war. Autor von pädagogischen Büchern.
Barbara Wenders arbeitete seit 1999 als Sonderpädagogin und Klassenlehrerin in der Grundschule Berg Fidel und ab 2014 bis zu ihrer Pensionierung 2018 in der PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist. Autorin von pädagogischen Büchern.